Laboratorium der Langeweile

Die Tschechow-Oper "Tri sestry" von Peter Eötvös eröffnet die Spielzeit der Oper Frankfurt.
Literaturoper? Ja und nein. Peter Eötvös schrieb mit den „Tri sestry“ („Drei Schwestern“) ein Meisterwerk, das die beiden aktuellen Entwicklungen des Musiktheaters in sich „aufhebt“. Diese Oper hat einen experimentellen Zug hin zur „postdramatischen“ Bühnenkunst; gleichzeitig ist sie ein weithin typisches „Erzählstück“. Darin folgt sie auf avancierte Weise der Dramaturgie Tschechows, bei dessen theatralischen Versuchsanordnungen ja auch nicht viel an äußerer Handlung passiert. Gerade die „Drei Schwestern“ bieten sich gewissermaßen als ein Laboratorium der Langeweile dar, jener Macht der lähmenden Ohnmacht, die im Russland des vorletzten fin de siècle zum Lebenselement einer absterbend-dekadenten Klasse wurde.
Tschechows hintersinniger „Komödie“
Der ungarische Komponist Peter Eötvös destillierte aus Tschechows hintersinniger „Komödie“ eine höchst originelle Oper; an der Textfassung beteiligte sich Claus Henneberg, Autor vieler veritabler „Literaturopern“ (etwa von Aribert Reimann), der die Lyoner Uraufführung der „Tri sestry“ 1998 nicht mehr erlebte. In den zwanzig Jahren seiner kurzen Rezeptionsgeschichte gehörte das Eötvös-Werk zu den am meisten bewunderten und erfolgreichsten Exempeln des neuen Musiktheaters. Die Premiere zur Spielzeiteröffnung im Opernhaus war nach dem „Goldenen Drachen“ (2014 im Bockenheimer Depot) die zweite Frankfurter Erstaufführung einer Eötvös-Oper.
Mit zwei Komponenten heben sich die „Drei Schwestern“ von der üblichen (Literatur-)Operndramaturgie ab. Zum einen besetzt der Komponist (in der jetzt auch in Frankfurt gespielten Originalversion) die weiblichen Rollen ausnahmslos mit männlichen Sängern, vor allem Countertenören. Dieser „Verfremdungseffekt“ weckt mehrere Assoziationen; am einleuchtendsten vielleicht die an eine Sphäre von Exaltiertheit und leicht morbidem Gefühlsluxus. Freilich übertreibt Eötvös die exzentrische Gesangstechnik auch wieder nicht in der Art von Bussotti oder Sciarrino; mit der Zeit hören sich die Counterstimmen der drei Schwestern und Nataschas durchaus „natürlich“ an. Der konstruktive Aplomb kommt durchweg auf leisen Sohlen.
Das andere unkonventionelle Element dieser Oper sind die zwei Orchester, in die der instrumentale Klangkörper aufgespalten wird – ein hinter den Sängern postiertes größeres „Ambienteorchester“ und im Graben ein kleineres Kollektiv aus Solisten (auch viel Schlagzeug), die zum großen Teil als klangliche Personifizierungen der Hauptfiguren eingesetzt sind. Das Tschechowstück ist geschickt gerafft in drei „Sequenzen“ (oder Akte), die jeweils von einer der Hauptfiguren dominiert werden. 13 oft gemeinsam auf der Bühne wuselnde Personen, das macht anfangs die Orientierung nicht leicht. Es dauert aber nicht lange, bis sich alles klärt.
Zumal in dieser auf Übersicht und Symmetrien pochenden Inszenierung von Dorothea Kirschbaum. Ashley Martin-Davis stellte dazu ein Bühnenbild bereit, das, mit rechteckigem, mit mehrfarbigem Leuchtrand versehenen Doppelrahmen, ein schlichtes Wohnungs-Interieur zeigt – von links nach rechts folgt dem kleinen Hof mit Spielgeräten ein Wohnzimmer mit den zeitlos-bildungsbürgerlichen Requisiten Klavier und Bücherwand und anschließend einer schlichten Küchenzeile. Alles recht prosaisch, Ort gelebter Langeweile und unlebbarer Sehnsüchte. Nach der Pause die ganze Einrichtung nochmals – seitenverkehrt.
In dieser Szenerie ein ständiges Kommen und Gehen, aber auch so etwas wie rasanter Stillstand. Die Gruppen werden von der Regisseurin plausibel nach musikalischen Eckpunkten „geordnet“ oder bilden ein musikalisch gestütztes Chaos. Mit der Zeit zeigen sich die drei Schwestern in ihren Verschiedenheiten. Am „weiblichsten“ die charmante Mascha von David DQ Lee. Wie einfrierend in ihrer alternden Verklemmtheit die Olga von Dmitry Egorov. Und verhuscht in rotem Haarschopf Ray Chenez als Irina. Drei gleichermaßen virtuose, dabei plastisch charakterisierende Counterstimmen. Dazu noch die kratzbürstige Natascha (mit besonders stark zurückgedrängter Virilität: Eric Jurenas) und die in stiller Komik zum lang aufgeschossenen Hausmann stilisierte Amme Anfisa von Alfred Reiter. Dem Bruder Andrei ist in der zweiten Sequenz ein hochexpressiver Monolog vorbehalten – der betont jungenhaft aussehende Mikolaj Trabka absolvierte ihn mit Verve und Durchschlagskraft.
Man könnte sagen, Peter Eötvös (Jahrgang 1944) stamme aus der Höhle des Löwen – als ganz junger Mann wurde er, enger Mitarbeiter Karlheinz Stockhausens, zunächst von dessen Ästhetik geprägt. Danach „emanzipierte“ er sich – als vielfältig interessierter Dirigent und als ein Musikerfinder, der, ohne Berührungsängste, mit dem erworbenen avantgardistischen Wissen eine multistilistische Musik favorisierte, die dazu tendierte, Gegensätze zwischen „alt“ und „neu“ zu verwischen. Das Raffinement im Zusammenspiel von Instrumental- und Vokalpart ist auch in den „Tri sestry“ so virtuos und überzeugend, dass man kaum Zeit hat für die Überlegung, ob das nun 1898 oder 1998 komponiert sei. Mit exzellierendem Nuancenreichtum beschworene Tschechow-Welt oder nicht eher doch das artifizielle Konstrukt einer aus modernem Bewusstsein entstandenen Meta-Psychologie? Ein geheimnisvolles Rätsel, das auch von den dirigentischen Präzeptoren – Dennis Russell Davies und Nikolai Petersen – in Frankfurt nicht gelöst werden wollte. Anhaltender Beifall für eine minuziös realisierte Produktion.