Jovana Reisingers „Spitzenreiterinnen“ am Kasseler Staatstheater: Männer in die erste Reihe

Heike M. Goetze bringt den Roman „Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger in Kassel auf die Bühne.
Die erste Reihe ist für den männlichen Blick reserviert. Als das Licht im Saal noch brennt, komplimentieren die Schauspielerinnen Mann um Mann aus dem Publikum nach ganz vorne, wo Bistrotische, Sekt und Käsehäppchen warten. „Wir brauchen noch einen Ersatzmann!“, rufen sie. Heiter und lachend, wie man das von charmanten Frauen so erwartet.
Um genau solche Erwartungen wird es in den folgenden drei Stunden am Kasseler Staatstheater gehen. Um Frauenrollen, die, wenn man den Selbstoptimierungssprech unserer Tage abzieht, immer noch geradewegs aus den fünfziger Jahren kommen könnten. Um Ansprüche, die eigentlich unerfüllbar sind: sanft zu sein und sexy, aufregend und fürsorglich, attraktiv, aber lieber nicht zu selbstständig. Kurz: Es geht um die Zumutungen des Patriarchats, die aber, das ist ja das Perfide am strukturellen Sexismus, auch verinnerlicht sind.
Jovana Reisinger hat das in ihrem 2021 erschienenen Roman „Spitzenreiterinnen“ ausbuchstabiert. Es ist ein sehr lakonisches, böses und witziges Buch. Erzählt wird von neun Frauen, die allesamt die Namen von Frauenzeitschriften tragen und zugleich Klischee sind und auch nicht. Laura wird heiraten und gewinnt damit im „Frauengame“ gegen ihre beste Freundin Verena. Barbara ersetzt ihren gestorbenen Mann durch ein zugelaufenes Hündchen. Lisa kann keine Kinder bekommen und wird deshalb von ihrem Mann verlassen. Tina wird von ihrem Mann misshandelt. Und alle arbeiten sich an den Erwartungen ab, die an sie gestellt werden. Nicht zuletzt von sich selbst.
Heike M. Goetze hat diesen feministischen Roman jetzt in Kassel für die Bühne adaptiert, und sie bleibt dabei nah an Text und Ton der Vorlage. Auf einer weißen und weitgehend leeren Guckkastenbühne spielen sieben Schauspielerinnen die neun Frauen. Vor allem aber teilen sie sich in wechselnden Chören die zwischen eiskaltem Sezieren und frauenzeitschrifthafter Betulichkeit oszillierende Erzählstimme des Romans. Die Regisseurin, die auch Bühne und Kostüme gestaltet hat, hat ihre Schauspielerinnen in identische weiße Gewänder gehüllt und ihnen – vielleicht etwas demonstrativ – die Hauben von Mägden aufgesetzt. Margaret Atwood lässt grüßen.
Was bei Reisinger noch Karikaturen sind, treffend gezeichnete allerdings, verliert so endgültig jede Individualität. Goetze interessieren nicht die Figuren, sondern die großen Themen, von Abhängigkeit und häuslicher Gewalt bis zu den bizarren Torturen, mit denen Frauen ihren Körper begehrenswert halten sollen. Lehrtheater? Ja, und warum auch nicht? Das Ensemble ist hervorragend eingestellt und meistert den pointensatten Text mit rasanter Präzision.
Und dann spendiert Goetze sogar noch ein versöhnliches Ende: Erst heiratet Laura einen der „Ersatzmänner“ aus der ersten Reihe, dann werden weitere Männer zum Engtanz auf die Bühne geholt. Alles ganz achtsam.
Staatstheater Kassel, Schauspielhaus: 3., 9., 28. Juni. www.staatstheater-kassel.de