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„Jedermann“: Wach auf, du verrotteter Christ

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Von: Judith von Sternburg

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Jedermann, Lars Eidinger, und die Buhlschaft, Verena Altenberger.
Jedermann, Lars Eidinger, und die Buhlschaft, Verena Altenberger. © Matthias Horn/SF

Lars Eidinger und Verena Altenberger im neuen Salzburger „Jedermann“.

Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ im Original der Salzburger Festspiele ist für viele eine Herzensangelegenheit, und die Toilettendame im Großen Festspielhaus wird manchem aus der Seele sprechen, wenn sie sagt, er sei nicht mehr derselbe wie früher. Andererseits wird für gewöhnlich nicht sehr starke Hand an ihn gelegt, und es war schon verhältnismäßig sensationell, als die Buhlschaft vor einigen Jahren mit einem Fahrrad über die Bühne fuhr. Etliche den „Jedermann“ betreffende Entscheidungen drehen sich um Fragen des Dekors oder des Spektakelgrads.

Auch jetzt ist das zum Teil wieder so, Jedermann gegen den Schuldknecht in einen Boxring steigen zu lassen, ist zunächst einmal eine bühnenwirksame Gaudi. Dann aber sieht man Lars Eidinger und den extrem drahtigen Mirco Kreibich in einem krassen Schlagabtausch, Fäuste fliegen, Körper biegen, kringeln und verwickeln sich in den Seilen in einer musikalisch untermalten, mal beschleunigten, mal verlangsamten Stummfilmkeilerei.

Außerdem ist es interessant, dass sich dieser Jedermann auf einem solchen Feld für echte Kerle noch einmal bewähren kann, wenn auch in einer eigenartig traumhaften, unwahrscheinlichen Sequenz. Gleich seinen ersten Auftritt hingegen hat er seiner Freundin überlassen. Verena Altenberger sitzt auf seinen Schultern, ihr Haar raspelkurz, ihr rotes Flatterkostüm über seinem Kopf, der ihren Bauch leicht sinnig schwanger aussehen lässt. Und er spricht zwar selbst seine auftrumpfend hedonistischen Worte, aber Altenberger eignet sich sie mit Lippenbewegungen und großen Gesten an, und sein Gesicht ist schließlich nicht zu sehen, dafür eine übermannsgroße strahlende Frau. Außer im Ring gegen den armen Wicht hat Jedermann nicht mehr viel zu sagen. Und er mag als Festspielbestandteil ein Selbstläufer sein, aber Regisseur Michael Sturminger – von dem bereits die vorangegangene Inszenierung stammte – und ein außergewöhnlich belebend eingesetztes Ensemble setzen Akzente.

Das Erstaunlichste ist Lars Eidinger, den man sich vorher als divenhaften und exaltierten Titelhelden vorstellt, aber so ist es nicht. Er wirkt natürlich und defensiv. Selbstverständlich will auch dieser Jedermann nicht sterben, aber seine Gegenwehr und seine Überredungsversuche gegenüber potenziellen Begleitern sind wenig polternd und ein wenig halbherzig. Es ist, als wüsste er bereits, was wir alle wissen: Er hat bereits verloren. Seine Mutter, Angela Winkler, die wie schon zuvor somnambul durch die Aufführung gleitet, nervt ihn, aber nicht auf jene augenrollende Weise, wie sie einem stabilen Lebemann ansteht. Sieh an, hat er etwa einen muttersohnhaften Anteil, der einem Jedermann an sich verboten ist?

Er wirkt auch einsam schon vor der Zeit, nicht nur weil seine Freundschaften hier besonders förmlich erscheinen. Altenberger ist dazu eine eindrückliche, herbe, restlos unkokette Buhlschaft, so selbstbewusst, dass sie dem Mann, den sie mag, bereits entwachsen ist. Der Sex zwischen den beiden: offenbar gut. Der Abschied am Ende: stumm.

Eidingers Jedermann ist in der Ausstattung von Renate Martin und Andreas Donhauser von vornherein – und der Boxkampf wirkt dem nicht ernsthaft entgegen – eine mehr skurrile als virile Figur, Schnürstiefeletten mit Absätzen, künstliches Bäuchlein als Teil der Kleidung, eine ulkige, puschlige Schamkapsel, aber nichts davon ist übertrieben, alles signalisiert bloß, dass hier mehr im Rutschen ist als das Leben eines einzelnen Menschen. Jedermann und die Buhlschaft, hundert Jahre lang eines der heterosexuellsten Paare im Bühnengeschehen, entziehen sich beide sanft einer Einordnung. Geschlechterzugehörigkeiten werden vielfach aufgelockert an diesem Abend, der zugleich von unverkrampfter, tänzerischer Leichtigkeit ist. Leicht aufgelockert auch das Textgefüge, in dem etwa Brechts „Morgenchoral des Peachum“ untergebracht wurde, vorgetragen von Eidinger.

Dazu etliche Kabinettstücke, Kreibich nachher noch als fabelhaft kompakter Mammon – Eidinger muss so viele Männer und Frauen heben, wie früher nur Balletttänzer –, Mavie Hörbiger als lustiger Teufel von großer Körperpräsenz. Die Inszenierung feiert die Physis, aber verhältnismäßig geistreich. Dazu teils putzmuntere, teils fromme Musik von Wolfgang Mitterer, vorgetragen vom Ensemble 021.

Am Ende hat Kathleen Morgeneyer als Audrey-Hepburn-haft knallsanfter Glaube den Teufel abserviert. Noch nie so gelacht über einen teuflischen Abgang wie über den von Hörbiger, dabei wollen alle Teufel das Publikum zum Lachen bringen. Nun stellen Eidinger und die große, ruhige Edith Clever als Tod eine Pietà nach, eine Pervertierung der Szene, aber eine schillernde, denn ergreifend und friedlich ist sie trotzdem. Das Uneindeutige ist es, das den neuen „Jedermann“ über den Durchschnitt hebt.

Auch diese Aufführung musste wie die Premiere im Rahmen eines gewaltigen Gewitters ins Große Festspielhaus verlegt werden. Die Platzbelegung ist wieder lückenlos, das Gewimmel wie eh und je. Seit gleich in jener ersten Vorstellung ein doppelt geimpfter Mann im Publikum saß, der kurz darauf positiv auf Corona getestet wurde, sind FFP2-Masken Pflicht.

Salzburger Festspiele: Vorstellungen bis 26. August. www.salzburgerfestspiele.at

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