„Iwanow“ in Stuttgart: Fast vorbei, ganz vorbei

Robert Icke zeigt Tschechows „Iwanow“ in Stuttgart hart und kalt zwischen Depression und Boulevard.
Hart, böse und nachher ins Boulevardeske komödiantisch gestaltet sich Robert Ickes Vereinnahmung von Anton Tschechows „Iwanow“. Im allgemein Beweglichen – selbst die Bühne dreht sich, wenn auch sehr, sehr langsam – herrscht psychologischer und überhaupt völliger Stillstand. Nikolas Hoffmann, so heißt Iwanow hier, hätte sich auch in der ersten Minute des Abends erschießen können, eines Abends, an dem das Publikum nicht viel von ihm erfahren wird. Diesen Teil – die Hoffnung, dass es helfen könnte, sich zu öffnen, über die Probleme zu reden – hat er offenbar schon lange hinter sich.
Nikolas Hoffmann ist ein mit sich selbst äußerst erfahrener Depressiver. Wenn er von sich sagt, er sei ein Witz, oder wenn er zu schluchzen beginnt, dann setzt das nichts mehr in Gang. Unglück, das sich so weit von Hoffnung, nämlich jenen Momenten der Aufbruchstimmung und des Pläneschmiedens, entfernt hat, ist zumal aus Sicht des Unglücklichen eindimensional, stumpf und ausgesprochen fad. Aus Sicht der anderen ebenfalls, die schemenhaft bleiben müssen und ihr Leben woanders führen.
Icke lässt nun recht unterhaltsam vorführen, wie man so noch eine ganze Weile weitermachen kann, bis man nicht mehr weitermachen kann. Benjamin Grüters Verschlossenheit, das Gegenteil von dem, was ein Schauspieler normalerweise tut, gibt ihm eine ungemütliche Unverbindlichkeit dem Leben und dem in diesem Fall damit einhergehenden Bühnengeschehen gegenüber. Auch wenn wir ihn in Großaufnahme sehen, lässt er sich keinen Deut in die Seele blicken.
Zum zweiten Mal ist nach „Orestie“ am Stuttgarter Schauspiel die Icke-Überschreibung eines Klassikers zu sehen. Der britische Theatermacher schraubt sich dabei nicht in die Tiefe der Texte. Er schaut nach plausiblen Vergegenwärtigungen und diese liegen, so ist das bei starken Texten, auf der Hand. Hatte das in „Orestie“ nach starkem Beginn zu einer Überkonstruktion und einem Zuviel geführt – zu viel Stoff, zu viel Drama, zu viel, was auch noch abgehandelt werden musste –, so handelt es sich bei „Iwanow“ um eine Reduktion auf den meisten Ebenen, eine Oberflächisierung, die in ihrer Konsequenz unheimlich überzeugt. Es besteht ja dieses Missverständnis, dass Unglück Tiefe hätte und dadurch interessant wäre. Übrigens verläuft auch der Abend umgekehrt, lässt sich zäh an – mit diesem Nikolas Hoffmann ist wirklich nichts mehr los –, um dann allmählich in Schwung zu kommen.
Hildegard Bechtler hat eine aufwendige Bühne bauen lassen, ein Luxusgegenstand gewissermaßen, indem die Spielfläche von Wasser umgeben ist, das aber für die Inszenierung nur beiläufig genutzt wird. Es ist wenig Wasser mit Blick auf die Fluten des Klimawandels – der natürlich Erwähnung findet, weil Immobilien in Ufernähe heute auch nurmehr ein Risikogeschäft sind –, aber viel Wasser für eine Theaterbühne. Vor allem Nikolas selbst watet durchs flache, stets im Dunkel bleibende Nass, das die Oberflächlichkeit der Situation spiegelt und zugleich leise Assoziationen an ein Totenreich weckt. Im Mittelpunkt der erhöhten Spielfläche so auch ein einfacher Sarg, hinten eine große Leinwand, auf der zuweilen Aufnahmen der Bühne von oben erscheinen (Video: Tim Reid). Darunter Nikolas’ Gesicht, wenn er nach oben starrt und Grüter sich rein gar nichts anmerken lässt. Dazu die Geräuschkulisse des Sounddesigners Joe Dines, die man immer wieder für einen Zufall halten kann – da ein Streichen des Windes, dort etwas Fluglärm. Alles sehr gedämpft.
In dieser dunkel wattierten Umgebung und in Wojciech Dziedzics heutigen, teils partymäßig aufgemotzten Kostümen wird vor allem klassisches Konversationstheater gespielt. Gezeigt werden keine Karikaturen, aber doch Typen. Die Perspektive bleibt quasi bei Nikolas, der niemanden mehr leiden, höchstens die junge Sascha noch ertragen kann, Nina Siewert, die unter Älteren und Alten wie von einem anderen Stern erscheint. Auch sie ist unsympathisch und egoistisch (Egoismus: das Oberthema der Veranstaltung), aber wenigstens lebensvoll. Peer Oscar Musinowski als friedliches Windei strotzt ebenfalls von Leben, Klaus Rodewald als armer Onkel würde zumindest gerne vor Leben strotzen. Enorm Saschas Mutter, Marietta Meguid, als Schreckgespenst an Kälte und Geschäftstüchtigkeit. Indem Nikolas und Icke in keinem Moment an der Fassade kratzen, bleibt sie ein Eisblock. Wie auch die dumme, quasselnde Marta, Christiane Roßbach, nichts weiter ist als dumm und quasselnd.
Es erscheint bloß wie ein Widerspruch zum Trübsinn, dass sich Icke für die Komödie, nicht die Tragödie entscheidet (Tschechow konzipierte erst das eine, dann das andere). Während Nikolas’ sterbende Frau, Paula Skorupa, und der Arzt, Felix Strobel, etwas blass bleiben müssen, nimmt die Figur des feigen, alerten Vaters von Sascha, Michael Stiller, entsprechend Fahrt auf. Gegen Ende entwickelt sich eine regelrechte Hochzeitsklamotte, Stiller als Brautvater am Rande des Nervenzusammenbruchs. Das Publikum fängt an, sich kaputtzulachen, es ist tatsächlich irre komisch. Nikolas erschießt sich. Alle schreien rum, aber der Abend ist vorbei.
Schauspielhaus Stuttgart: 1., 14., 26. Dezember. www.schauspiel-stuttgart.de