„Ivan IV“ von Georges Bizet in Meiningen: Der Schreckliche

Georges Bizets zu Unrecht völlig missachteter Oper „Ivan IV“ wird in Meiningen eine Aufführung zuteil, die sich sehen und hören lassen kann.
Georges Bizet gehört zu den Glückspilzen und Pechvögeln, denen eine einzige Oper dauerhaften Weltruhm brachte, woraufhin aber sämtliche andere ihrer Musiktheaterwerke aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wurden. Die doch an sich vernünftige Vermutung, dass ein Mensch, der eine „Carmen“ schreibt, auch darüber hinaus etwas zu bieten haben müsste, hat am ehesten den „Perlenfischern“ gelegentlich eine Chance gegeben.
„Ivan IV“ aus der ersten Hälfte der 1860er Jahre – Bizet war Mitte 20 – war hingegen noch zusätzlich benachteiligt: Der wichtige Bizet-Biograf Winton Dean stampft das Libretto und eigentlich auch die musikalische Anlage der Oper in seiner Biografie in Grund und Boden (allein die Zusammenfassung der Handlung ist eine Vernichtung, allerdings eine unterhaltsame). Hinzu kam, dass Aufführungspläne zu Bizets Lebzeiten scheiterten und er darum den fünften Akt nicht mehr vervollständigte. Nach einigen Anläufen, die folgenlos blieben, legte der englische Dirigent Howard Williams eine fertige Fassung vor, die als relativ authentisch gilt und die in Deutschland jetzt am Theater in Meiningen erstmals szenisch zu erleben ist – erleben ist kein zu großes Wort dafür.
„Ivan IV“ ist eine veritable Grand opéra, lang und raumgreifend, die Handlung vollgestopft mit Action, aber auch mit sinnlicher Musik, wirkungsvollen Chören, lyrischen Ensembles, hochdramatischen Arien. Das ist (überraschenderweise) wenig folkloristisch „slawisch“ – auch dies ein zentraler Vorwurf gegen das Werk – , was sich nicht zuletzt etwa daran zeigt, dass das wunderschöne „Lied des jungen Bulgaren“ ein für den gleichfalls untergegangenen „Vasco da Gama“ vorgesehener Bolero ist. Spanien, Portugal, Bulgarien – Hauptsache von woanders her.
Angst im Kreml
Es ist einfach, sich über „Ivan IV“ lustig zu machen, aber das Lachen vergeht einem angesichts der Meininger Großtat. Musikalisch hält Philippe Bach ein glänzend aufgelegtes Orchester – nun, es ist die berühmte Meininger Hofkapelle, was erwartet man, die Legende lebt –, den großen, vorzüglich vorbereiteten und spielfreudigen Chor (unter der Leitung von Manuel Bethe) und das fitte Ensemble ausgezeichnet zusammen. Regisseur und Ausstatter Hinrich Horstkotte findet einen packenden Zugang, der nach einem selbst bei ihm noch etwas mühevollen Beginn seine Klugheit entfalten kann: nach dem lieblichen Tscherkessinnen-Tableau, dem Auftritt des Zaren inkognito, den ersten Anzeichen von Liebe zwischen ihm und der Prinzessin Marie, dem Überfall und der Verschleppung der tscherkessischen Frauen durch russische Truppen, den Racheschwüre und -planungen der Männer, es geht Schlag auf Schlag. Am Zarenhof aber kann nun Ivan, den man nicht umsonst den Schrecklichen nannte und dem Tomasz Wija eine höchst markante Gestalt und eine schöne Stimme gibt, seine brutale Herrschaft mit Horstkottes Ideen ebenso subtil wie unzweifelhaft demonstrieren. Der Zar spielt Schach mit dem unterwürfigen, nachher oberschurkischen Yorloff, dem geschmeidigen Shin Taniguchi. Die schräge Tafel zwingt den Hof, sich zu ducken, ohnehin ist der Herrenchor ein Grüppchen verängstigt durch den Akt geschleuderter Untertanen.
Die Szene, in der der junge Bulgare sein Lied singt – erschütternd: Sara-Maria Saalmann –, ist eine ebenso zurückhaltend bebilderte wie dadurch erst recht furchtbar wirkende Vergewaltigung. Marie, die sanfte, stimmlich großformatige Mercedes Arcuri, die einen solchen Mann natürlich nicht heiraten will, wird zunächst von dessen Schwester, einer Nonne, Tamta Tarielashvili, gerettet: Die Kraftprobe zwischen den Geschwistern, ein zähes Niederringen des Gruselbruders, ist musikalisch und szenisch überaus spannend gelöst. Horstkotte arbeitet geschmackssicher mit historisierenden Gewändern, aber vor allem setzt er Menschen aus Fleisch und Blut in Szene.
Der Chor, der nach der Pause dann doch die Hochzeit ankündigt, tanzt einen feierlichen und possierlichen Tanz, greift auch Bizets unpassende Walzersequenzen auf und beschämt alle lieblos geführten Chöre dieser Welt. Ivan und Marie sind gegen alle Logik ein gar nicht so unglückliches Paar, allerdings wird noch manche Intrige zu überstehen sein, bis der Richtige – der Verräter Yorloff – aufs Schafott muss: Maries Vater, der prächtige Bassbariton Paul Gay, der mit der Inszenierung allerdings nicht viel zu tun zu haben scheint, mischt sich ein, ebenso ihr Bruder, der Tenor Alex Kim, der eine höllisch anspruchsvolle Partie tadellos abliefert.
Ohne zu forcieren rückt Horstkotte schließlich mit der grausigen Erkenntnis heraus, dass die Machtbesessenheit größer ist als die Liebe. Nicht einmal seine kluge Frau wird Ivan neben sich ertragen können, sie und alle werden zum pompösen Schluss von einem Laken verschluckt – das beim Wiederöffnen des Vorhangs für einen Moment die blau-gelbe Fahne zeigt. Am Wochenende des Jahrestages braucht es in Meiningen im Grunde nicht einmal das, um vor Willkür- und Gewaltherrschaft zittern zu lassen.
Staatstheater Meiningen: 4., 11., März, 27. April, 28. Mai, 26., 28. Juni. www.staatstheater-meiningen.de