Hessisches Staatsballett mit „Force Majeure“ und „Boléro“: Eine höhere Gewalt

„Force Majeure“ und „Boléro“, ein atemberaubender Doppelabend des Hessischen Staatsballetts.
Force Majeure“, französisch, bedeutet „höhere Gewalt“. Eine Choreografie dieses Titels eröffnet den neuen Doppelabend des Hessischen Staatsballetts, und während man noch grübelt, welche höhere Gewalt da gemeint sein könnte, bekommt man schon die Antwort: die des Tanzes, mon dieu. Denn schon lange nicht mehr wurde man von seiner Kraft (und der der Musik, dazu gleich mehr), so unverschämt mitgerissen. Und während man noch grübelt, wie das zweite Stück zu Maurice Ravels „Boléro“ gegen die Macht des ersten bestehen soll, sieht man schon das großartigste Solo: Tatsuki Takada eine Viertelstunde ziemlich minimalistisch und allein gegen einen zart „dekonstruierten“ Ravel, ehe der Ohrwurm vom Staatsorchester Darmstadt unter der Leitung Johannes Zahns zum zweiten Mal gespielt wird. Diese Kritikerin hat den Atem angehalten.
Aber von vorn. „Force Majeure“ ist die Arbeit des kanadischen Duos David Raymond und Tiffany Tregarthen; sie sind hierzulande noch unbekannt, aber sie haben öfter mit ihrer Landsfrau Crystal Pite zusammengearbeitet, an die sich Tanzinteressierte noch im Zusammenhang mit ihrer Company Kidd Pivot am Mousonturm erinnern werden. Die hochdynamische Musik zur höheren Gewalt kommt von der Französin Angèle David-Guillou, die in Rockbands E-Gitarre spielte und Klavier studierte. Musik und Tanz passen so vorzüglich zusammen, da beides direkt aufs Bauchgefühl zielt, da nichts daran verkopft wirkt.
Mit schmalen Lichtspots wie Himmelszeichen (James Proudfoot), mit sofort auftrumpfender Musik (das Staatsorchester scheut keinen Wumms), mit einer Fontäne an Kleidungsstücken aus dem Bühnenboden (Bühne, Kostüm: Raymond & Tregarthen) beginnt es in Darmstadts Großem Haus. Ein Leuchttisch, über den sich das Ensemble beugt wie ratlos Beratende, spielt eine Rolle. Zeremonielle Kleiderwechsel spielen eine Rolle. Ein knochentrockenes, noch wurzelbewehrtes Bäumchen spielt eine Rolle. Hinten eine Wand mit großer Rau-Struktur, die im Licht immer anders, auch andersfarbig erscheint.
Keine Ahnung, was das bedeuten soll, ob es etwas Bestimmtes bedeuten soll. Die Bilder sind so stark, rufen so vielfältige Assoziationen auf, dass die eigenen Synapsen funkeln.
Dazu kommen Soli und furiose Ensembles, kommt eine Bewegungssprache, die in vertraute Muster gerade so viel Fremdheit und Originalität einfügt, dass keine Ermüdung entsteht. Sei es, dass eine vom Partner gehobene Tänzerin das Bein früh wie zum Schritt senkt, als wolle sie noch in der Luft loslaufen, sei es, dass eine Erstarrung an in Pompei gefundene Tote denken lässt.
Die unvertraute Bewegungsmischung zeichnet auch Eyal Dadons doppelten „Boléro“ aus. Leichtfüßigkeit und plötzliches bedeutsames Verharren, asiatisch anmutende Gesten, Ballett-Trippeln – Dadon pickt sich aus der Fülle der Tanzsprachen raus, was dann zusammen eine erstaunliche und erstaunlich neue Qualität erzeugt. Auch hier Düsternis (Licht erneut von Proudfoot). Kostüme wie vom Flohmarkt, aber cool, wie von Malochern oder gar Sträflingen (Bregje van Balen). Der Israeli zielt mit Erfolg auf die dunkle Seite des berühmten Musikstücks. Auch hier purzeln die Assoziationen, ohne dass irgendetwas überstrapaziert wird.
In beiden Stücken: Tiefe, die wie von selbst entsteht. Bewegung, die die Zuschauerin bewegt. Am Ende reicher, verdienter Applaus für alle Beteiligten.
Staatstheater Darmstadt: 24. Februar, 4., 9., 11., 24. März, 28. April. www.staatstheater-darmstadt.de