„Hercules“ an der Oper Frankfurt: Adieu, Liebe, adieu Freiheit

Barrie Kosky setzt an der Oper Frankfurt Händels „Hercules“ mit glänzendem Ensemble cool und intensiv in Szene.
Georg Friedrich Händels „Hercules“ müsste „Dejanira“ heißen, denn die Frau des extrem kräftigen und fitten Helden steht im Zentrum dieser Eifersuchtstragödie. Ausführlich und von mehreren Seiten wird Dejanira darüber belehrt, dass Eifersucht der Anfang vom Ende ist – der Liebe, des Friedens, und auch, wie wir verraten dürfen, aller Zukunft –, sie weiß es selbst, sie kann nicht anders, und wer selbst schon raste, aus welchen Gründen auch immer, wird sich leicht vorstellen, wie sie sich hineinsteigert.
In Frankfurt hat sie besonders wenig Anlass dazu. Herkules und die mitgebrachte holde Kriegsbeute Iole, auch sie selbstredend aus bester Familie, kommen sich kaum nahe. Würde Dejanira ein einziges Mal hinschauen, wäre ihr klar, dass allein ihr Sohn Hyllus mit der schönen Fremden äugeln will. Diese ist vorerst nicht aufgeschlossen. Man kann es komplizierter sehen. Zur Eröffnung der Händelfestspiele am Staatstheater Karlsruhe war „Hercules“, selten auf der Bühne zu erleben, im vergangenen Jahr in Floris Vissers Deutung ein ausgeklügeltes und verblüffend gut aufgehendes Gerichtsdrama. In Frankfurt ist es in allererster Linie ein triumphaler Abend für Paula Murrihy (Dejanira) und für den Opernchor. Aber der Rest ist auch nicht ohne. Herkules jedoch ist bei Regisseur Barrie Kosky unschuldig, ist überhaupt nicht der Typ, ist nicht direkt unterbelichtet, aber schon der Mann, der gemütlich nach Hause zu seiner Frau will. Er hat auch einiges hinter sich.
„Hercules“, 1745 ohne Erfolg in London uraufgeführt (und auch jetzt wieder auf Englisch gesungen, die immer eine leise Ironie mit anbietende englische Sprache steht Händel gut), gilt als Oratorium. Händel selbst kündigte ein „Musical Drama“ an, und es ist jedenfalls vor allem die fantastische Rolle des Chores, die opernuntypisch an dieser gleichwohl hochdramatischen Geschichte ist. Einer Geschichte der Leidenschaft Shakespeare’schen Ausmaßes. Dejanira ist in diesem Fall Othello, die nicht einmal Iago braucht, um ihrem soeben siegreich heimgekehrten Gatten bis aufs Blut zu misstrauen.
Die von Kosky am eindrücklichsten ausgespielte Ambivalenz bezieht sich auf den offiziell versehentlich ausgeführten Mord. In Frankfurt kann indes kein Zweifel daran bestehen, dass Dejanira eine deutliche Vorstellung davon hat, was das Hemd des von ihrem Mann umgebrachten Kentaur Nessos anrichtet – Nessos zufolge soll es, in sein Blut getränkt, ewige Liebe wecken. Tatsächlich handelt es sich natürlich um gruseliges Gift (nein, Dejanira weiß vermutlich nicht genau, was es anrichtet, aber sie ist nicht so dumm zu denken, dass Nessos ihr ein herzliches Abschiedsgeschenk gemacht haben könnte).
In Frankfurt ist das Hemd blütenweiß, Dejanira zieht es aus einer überraschenden Stelle einer Herkulesstatue und hält es mit zwei Klämmerchen fest. Auch der treue Lichas, hier die treue Lichas, packt es nicht mit bloßen Händen und nur mit Grausen. Sie wissen, was sie tun.
Schrecklich ist Herkules’ Sterben, und in einer ansonsten markant reinlichen Umgebung hat Ausstatterin Katrin Lea Tag hier tüchtig blutiges (aber nicht tropfendes) Fleisch bloßgelegt.
Tags Bühne ist gnadenlos hell und spartanisch, ein auf Kante gestellter Saal. Im ersten Teil besetzt eine kurios dahockende Herkulesstatue einen Platz auf einem Zweisitzersofa, im zweiten Teil gibt es die stehende Statue, Herkules klassisch auf die Keule gestützt. Zwischen Spielfläche und Rückwand ein nützlicher Spalt, um zu verschwinden oder die Reihe der Choristen und Choristinnen noch einmal anders wirkungsvoll in Szene zu setzen.
Der Chor kommentiert (oratoriumsmäßig) in die Handlung hinein, schneidend kompakt musikalisch (einstudiert von Tilman Michael), schneidend kompakt auch szenisch: fröhlich hüpfend und tanzend, tippelnd marschierend, Dejanira bedrängend, das Publikum bezirzend. Eine Horde, ein Schwarm, eine Truppe, die jederzeit wieder in Individuen zerfallen kann. Der Opernchor des Jahres (in der Kritikerumfrage der „Opernwelt) in großer Form, und es ist herrlich zu sehen, wie Kosky sich das zunutze macht. Tag hat – wie auch für die Solistinnen – zeitlos modischen Chic gewählt, die Gesichter sind ein bisschen maskenhaft geschminkt, aber ihre Individualität eher herausstellend als versteckend.
Kosky inszeniert schlank und puristisch und mit einem raffinierten Stegreifappeal, denn so spontan manches wirkt, so ausgetüftelt muss es tatsächlich sein. Die Stimmung: gegenwärtig, ironisch. Ein wenig giftig insgesamt. Mitleid und Neugier gehen miteinander einher, aber die Neugier siegt vorerst meistens. Erst am Ende tut es den anderen dann doch irgendwo leid. Zu schlimm ergeht es Herkules, zu verzweifelt ist Dejanira, die das doch nicht wollte, nicht so, nicht so grässlich. Kosky verzichtet dabei auf Grellheiten und die meisten Barockspäßchen, aber ebenso auf Sanftmut. Den Männern mangelt es etwas an Übersicht, den Frauen nicht. Keine netten Frauen. Drei grandiose Sängerinnen und Darstellerinnen zeigen ein Flirren momentaner Gefühle, rasche Missgunst, vergnügte Boshaftigkeit, der genießerische Blick auf fremdes Leid. „Hercules“ ist keine Bürogeschichte, aber man könnte in Frankfurt zwischenzeitlich fast auf den Gedanken kommen.
Kelsey Lauritano ist der Diener/die Dienerin Lichas, ihr sanft glühender Mezzo ist ebenso gefragt wie ihr delikates Mienenspiel. Das neue Ensemblemitglied Elena Villalón, hier bei ihrem Hausdebüt, ist die liebliche, aber in Frankfurt nicht arglose Iole mit leichtem, lichtem Sopran. Auch Paula Murrihy, die Königin des Abends (das ist ja so besonders tragisch: keiner zweifelt an ihr), ist zugleich eine normale, moderne Frau. Ihre große Stimme wird mit dem technisch Virtuosen der ausufernden Partie ebenso erstklassig fertig wie mit dem erforderlichen facettenreichen Gefühlen. Schon in Karlsruhe war es ein Erlebnis, Dejanira fast sprechen, schreien, seufzen und ächzen zu hören, Murrihy bietet auch in dieser Hinsicht in Frankfurt reichen Ausdruck.
Der Titelheld ist der milde Bass Anthony Robin Schneider, ein Mann wie ein Baum und hier mit bäriger Gangart (eine der wenigen Witzeleien, aber auch ganz sympathisch). Qualvoll stirbt er und erlebt sodann seine Apotheose – was von Kosky, der sich nicht rasend für ihn interessiert, nicht weiter ins Bild gesetzt wird. Erik van Heyningen als freundlicher und sonorer Priester des Jupiter informiert uns über das Spektakel. Hyllus ist der in dieser Frankfurter Saison allgegenwärtige Tenor Michael Porter, auch hier stimmlich und spielerisch quick und souverän. Der Barockexperte Laurence Cummings, erstmals am Haus, lässt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester auf historischen Instrumenten und in historischer Stimmung spielen, einen jenseits des absoluten Gehörs nicht bemerkbaren Halbton tiefer. Bemerkbar ist nur, wie nahtlos sich die Musikerinnen und Musiker offenbar auf die Situation einstellen können.
„Hercules“ ist eine Koproduktion mit der Komischen Oper in Berlin (dort für 2024 geplant) und, eine der Sonderbarkeiten dieser von Corona mitorganisierten Saison, nach „Orlando“ (Regie: Ted Huffman) die zweite große Händel-Premiere der Spielzeit. Sehr unterschiedlich die Werke, ökonomisch in beiden Fällen die Inszenierungen. An menschlicher, auch an kleinlich menschlicher Intensität nimmt es jedoch kaum einer mit Kosky auf. Der Schlussjubel (nachdem die lange, gelegentlich sehr lange Musik kaum unterbrochen wurde, wie schön) war bei der Premiere tosend. Der Chor wurde empfangen wie eine Diva.
Oper Frankfurt: 3., 6., 14., 18., 21., 26. Mai. www.oper-frankfurt.de