„Hedda Gabler“ am Schauspiel Frankfurt: Der Fiepton nach dem Schuss

Am Schauspiel Frankfurt lässt Mateja Koležnik „Hedda Gabler“ im gläsernen Korridor stehen.
Ein Abend wie ein Nachhall. Der Schuss, mit dem Hedda Gabler ihrem Leben ein Ende setzen wird, ertönt bereits ganz am Anfang zum ersten Mal. Man begreift allmählich und spätestens beim zweiten Schuss anderthalb Stunden später, dass der sirrende Ton in Bert Wredes untergründiger Musik das ist, was im Ohr tinnitushaft nachklingen mag, wenn scharf geschossen wurde.
Im Theater, überhaupt in den Kulturzweigen, zu denen Publikum vor Ort gehört, geht es in diesen bitteren Tagen nicht zuletzt und derzeit gerade wieder ganz besonders ums Weitermachen. Der Elan und Schwung, der gegen Widrigkeiten faktischer und menschengemachter Art aufgebracht werden muss, steht in einem scharfen Gegensatz zu Hedda Gablers Gemüt. Man sieht vor sich, wie Hedda Gabler mit den Augen rollen würde, wenn es bei Tisch schon wieder um Corona ginge. Am Schauspiel Frankfurt ist Anna Kubin eine kühle Frau von heute in einem legeren, etwas aufreizenden Haus-Chic (Kostüme: Ana Savic-Gecan). Weder Kubin noch Regisseurin Mateja Koležnik bemühen sich darum, sie dem Publikum im mindesten sympathisch zu machen, auch wenn Hedda lächelt und der Küsschen-Küsschen-Typ ist. Wer Henrik Ibsens vielanalysierte, am Ende undurchschaubare, zugleich über- und unterschätzte Heldin noch nie mochte, bekommt hier keinen Ansatz zum Umdenken.
Dafür begreift man, dass sie – in ihrem langweiligen Gelangweiltsein, ihrer Investition in eine elegante Oberfläche, ihrem leeren gesellschaftlichen Ehrgeiz – ein Mensch ebenso gut aus unserer Zeit ist. Dafür begreift man nicht, was es mit ihrer Sehnsucht nach „Schönheit“ auf sich hat, und sei es nur die „Schönheit“ eines geschmackssicheren Suizids. Letzteres hängt damit zusammen, dass Koležnik mit einer stark gekürzten, auf 85 Minuten gebrachten Fassung arbeitet. Das ist sehr geschickt gemacht, aber naturgemäß rücksichtslos gegen Einzelheiten und sämtliche Entwicklungen und damit doch gegen das meiste, was ein gutes Theaterstück ausmacht.
Eine Stunde und 25 Minuten: Das ist pausen-, aber nicht unbedingt atemlos. Auch in der Kürze legt sich vielmehr die Trägheit Hedda Gablers über das Ganze, während die übrigen – bei Ibsen äußerst interessanten – Figuren schemenhaft bleiben müssen (wer das Stück kennt, hoffentlich viele, hoffentlich alle, füllt sich manches selbst auf): Torsten Flassig als unglückseliger Tesman, dessen kurioser Oberlippenzwirbelbart gewissermaßen das einzige ist, was aus dem 19. Jahrhundert herüberwinkt – sein berühmtes „Stell dir vor“ ist wie ein Zitat aus einem textreicheren Stück. Katharina Linder als Tante Julle, die zu kurze Auftritte hat, um uns so zu nerven wie sie Hedda Gabler nervt. Peter Schröder als Hausfreund in spe und friedlicher Erpresser. Er zeigt die recht spröde Variante eines anderen, Hedda aber durchaus würdigen bequemen Egoismus. Tanja Merlin Graf als Frau Elvsted kommt kaum über ein bisschen Nervosität und Fahrigkeit hinaus – Koležnik braucht aber tatsächlich nur Sekunden, um das beträchtliche Aggressionspotenzial unter Frauen auf den Punkt zu bringen. Andreas Vögler ist ein smarter, aber ebenfalls flüchtiger und doch arg unversehens rückfälliger Ejlert Lövborg. Dass vor allem der emsige Tesman, der labile und begabte Ejlert sowie die perfekte Mitarbeiterin Frau Elvsted ihrerseits vorzüglich modern sind, steht nicht zur Debatte.
Keiner darf über eine Skizze hinaus. Das ist der erwähnte Nachhall, mit dem alles nur vage und rasch noch einmal angetupft wird. Das bedeutet aber auch, dass sich die Frankfurter „Hedda Gabler“ erzählerisch so wenig für sich interessiert, wie Hedda Gabler selbst es einem Theaterstück gegenüber täte. Wenn es so gemeint ist, ist es ein kühnes Konzept, das offensichtlich Gefahr läuft, sich gegen sich selbst zu richten. Nein, es richtet sich auf jeden Fall gegen sich selbst.
Zusätzlich erschwert wird den Figuren ihre merkwürdige, in Frankfurt buchstäblich abgedunkelte Existenz durch die besonders wichtigen Mikrofone, die sie aus dem Hintergrund immer so klingen lassen, als seien sie schon zu sehen: gleichmäßig laute Stimmen, losgelöst von den Körpern. Das wiederum hängt mit dem Bühnenbild zusammen, dem Koležnik letztlich den Vortritt vor allem anderen zu lassen scheint.
Vom Haus, das sich Tesman und Hedda eigentlich nicht leisten können, lässt Raimund Orfeo Voigt nur einen langen Flur mit einem elegant schmalen Treppenaufgang sehen, hinten tauchen Couch und Lampe auf, schlicht, aber teuer. Der Flur ist zugleich eine riesige Glasvitrine, sie schiebt sich von der Seite schräg auf die finstere Bühne und verschwindet dort zwischenzeitlich wieder. Der spärliche Lichteinfall verschattet die Figuren, die nachher auch von angelieferten Möbeln oder Bildern verdeckt werden. Während die anderen lediglich eine herkömmliche Glasfront sehen, entgeht Hedda nicht, dass das ein Terrarium ohne Ausgang ist. Als sich Kubin mit Wucht dagegen wirft, ergibt sich nur ein dumpfer Schlag. Das hält garantiert.
Ein noch spektakulärerer, viel längerer Voigt-Gang dominierte schon die Salzburger „Sommergäste“ 2019, die Koležnik wegen Krankheit nicht selbst inszenieren konnte. Corona und Koležniks langer Ausfall sind auch der Grund dafür, dass am Schauspiel Frankfurt zwei Arbeiten der slowenischen Regisseurin nun so dicht aufeinander folgen. „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ vom Oktober wird von Voigts Scheiben-Kosmos geprägt. Und tut sich mit „Hedda Gabler“ zu einem kühlen, auch unverbindlichen Doppel zusammen.
Schauspiel Frankfurt, Schauspielhaus: 20., 21., 27., 28. Januar, 4., 5. Februar. www.schauspielfrankfurt.de