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Es gibt keine Ex-Opfer

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Von: Simon Berninger

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Julia Staufer spielt Julia Albrecht, die Schwester von Susanne Albrecht.
Julia Staufer spielt Julia Albrecht, die Schwester von Susanne Albrecht. © Robert Schittko

Im Schauspiel Frankfurt arbeiten die beiden "Patentöchter" den RAF-Mord an Jürgen Ponto auf.

Eine lange Tafel, in der Mitte ein Strauß Rosen und zwei Gedecke, ansonsten zur Serviette gefaltete DIN A4-Papiere, die jeweils einen Sitzplatz markieren. Das Publikum im Schauspiel Frankfurt staunt, als es bei der Premiere von „Patentöchter“ im Foyer vor der Box gebeten wird, selbst an der Tafel Platz zu nehmen. Damit sind die Zuschauer unmittelbar hineingenommen in den sich entspannenden Dialog zwischen Corinna Ponto (Katharina Kurschat) und Julia Albrecht (Julia Staufer). Die beiden Bühnenfiguren sind keine fiktiven Personen, sondern Betroffene, als 1977 die Rote Armee Fraktion (RAF) den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Jürgen Ponto, in dessen Haus in Oberursel erschoss. Seine Ermordung gehörte zur Terror-Offensive im Vorfeld des „Deutschen Herbstes“.

In „Patentöchter“ trifft Pontos Tochter Corinna auf die Schwester der Attentäterin, Julia Albrecht. Eine Begegnung, Annäherung, Aussprache – 35 Jahre nach dem Mord, so der Kunstgriff von Regisseurin Regina Wenig. Noch ehe Corinna und Julia auftreten, projiziert eine Installation mit nervtötendem Getippe einstiger Gerichtsprotokollapparate die Bruta Facta von damals an die Wand. Das kalt dem Publikum ins Gesicht strahlende Scheinwerferlicht tut sein Übriges, um den Zuschauer wissen zu lassen: Es geht an die Substanz.

„Zu Hause gibt es nicht mehr“, sagt eine abgeklärte Corinna darüber, was der Anschlag von heute auf morgen in ihrem Elternhaus und für sie bedeutete. Um die Tafel herum, auch vor den Beisitzer des Dialogs, den Zuschauer, stellt sie Pappschilder auf: 1, 2, 3... wie bei der Spurensicherung an einem Tatort. So wird das Jahrzehnte zurückliegende Trauma wieder Gegenwart, auch für das Publikum.

Für beide gilt, was Albrecht beklagt: „Die Täter fanden ihre Identität, uns wurde eine aufgezwungen.“ Auch das leistet das gut einstündige Kammerspiel, zeigt es doch, wie ein solches Attentat den Lebensentwurf der nächsten Angehörigen durchkreuzt, hin- und hergerissen zwischen Fremdbestimmung und Selbstbehauptung. Albrecht spricht von Freiheitsberaubung, werde sie doch seit dem Attentat nur noch als „Schwester von Susanne“ wahrgenommen.

Aus dieser Opferrolle gibt es kein Entfliehen, da sind sich beide einig. „Man spricht heute von Ex-Terroristen. Aber es gibt keine Ex-Opfer“, bricht es aus Corinna heraus, längst nachdem die mit sich und miteinander ringenden Protagonistinnen die eingedeckte Tafel samt der Tischdecke abgeräumt haben. Sie hasse nach all den Jahren nicht die Mörder ihres Vaters, sagt sie, sondern die Rolle, in die sie die Täter hineingezwungen haben.

„Heilt die Zeit alle Wunden?“, fragt Julia ihre Dialogpartnerin am Ende, da sie einander so nah wie nie, durch das Gespräch nun doch ruhig, fast schon befriedet gegenüberstehen. Damit lässt die Inszenierung auch die Frage nach Versöhnung und Verzeihung anklingen, worauf die wirklichen „Patentöchter“ in ihrem gleichnamigen Buch bereits eine eigene Antwort versucht haben. Im Stück hat die, die ihren Vater verloren hat, das letzte Wort: „Du stellst Fragen... stellst sie hin wie einen Spiegel.“ Einen Spiegel, vor den einmal mehr die Zuschauer gestellt sind – auf jeden Fall durch diese Inszenierung.

Schauspiel Frankfurt, Box: 27. November, 5. Dezember. www.schauspielfrankfurt.de

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