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Festival Tanzmainz: Machos und Vierfüßer

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Von: Sylvia Staude

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Das Ballet national de Marseille versteht in „Lazarus“ von Oona Doherty keinen Spaß. Foto: Didier Philispart
Das Ballet national de Marseille versteht in „Lazarus“ von Oona Doherty keinen Spaß. Foto: Didier Philispart © Didier Philispart

Das Tanzmainz-Festival in voller Fahrt mit dem Ballet national de Marseille und CocoonDance

Als mutig, Neues ausprobierend beschrieb Honne Dohrmann, Tanzdirektor in Mainz, das von ihm zum Tanzmainz-Festival eingeladene Ballet national de Marseille. Denn nicht nur wird das traditionelle Ensemble seit 2019 von einem Kollektiv geleitet, das sich (LA)HORDE nennt, es reiste auch mit einem vierteiligen Abend an, der sogleich seinen Wagemut und seine Zukunftszugewandtheit bewies: Choreografien von der einst revolutionären, jetzt zum modernen Kanon gehörenden US-Amerikanerin Lucinda Childs, von der kessen Portugiesin Tânia Carvalho, der queeren Lasseindra Ninja, deren Sexy-Glamour-„Mood“ auch gut ins Moulin Rouge passen würde, schließlich der Nordirin Oona Doherty, die einen präzisen Blick auf Körpersprache im Alltag hat.

Bereits 2018 war Doherty in Mainz, gab in einem Solo den kantigen, posenden, latent gewalttätigen jungen Typen. Das hat sie nun für das Marseiller Ensemble zur Choreografie „Lazarus“ für 16 Tänzerinnen und Tänzer umgearbeitet: einen besonderen Effekt hat diese drohgebärdende, breitbeinige, trotzige Horde, auch wenn es nicht jeder zierlichen Tänzerin leicht fallen mag, den ganzen üblen Kerl zu geben.

Die Spannbreite an diesem Abend ist immens. Denn munter, aber doch auch geometrisch abgezirkelt ist Lucinda Childs’ feines Spiel, in dem sich kurze Sequenzen verschieben und ineinander greifen wie Rädchen. Vier Tänzerinnen und vier Tänzer folgen in „Tempo Vicino“ einem intrikaten, quicken Muster zu eifrig klimpernder Musik des Minimal-Music-Vertreters John Adams.

Tânia Carvalho wiederum steckt das Ensemble in „One Of Four Periods In Time (Ellipsis)“ zuerst in Puffärmel-Kleidchen und treibt eine affektierte Gespreiztheit – auch mittels Grimassen – ironisch auf die Spitze, dann bleiben nur schwarze Bodies und wird die Bewegungssprache kantiger, resoluter.

Wie bei diesem Festival üblich, konnte man (so man eine Karte ergattert hatte) die Spielstätten wechseln zu einem Nachschlag. Im U17 zeigten diesmal sechs bewundernswerte Tänzerinnen und Tänzer „Standard“ von Rafaële Giovanola; diese ist hier keine Unbekannte mehr, seit sie für Tanzmainz das mit dem Faust ausgezeichnete „Sphynx“ schuf. Jetzt kam sie mit ihrer Gruppe CocoonDance.

Nur noch staunen konnte man, da die sechs Ausführenden sich fast eine Stunde lang kopfunter, Po hoch bewegen (mit Yoga Vertraute können an den abwärtsschauenden Hund denken), die Muster dekonstruierter Standardtänze gleichsam auf allen Vieren nachvollziehend. Nervös frickelt eine Komposition von Franco Mento, ohne auf spezifische Rhythmen wie etwa Walzer oder Tango Rücksicht zu nehmen. Und die Kostüme von Fa-Hsuan Chen bestehen aus Leggings sowie auf die nackten Oberkörper geklebten Bändern.

Faszinierend fremd wirkt, was doch vertraut sein sollte. Aber trotz eines spiegelnden Bodens, der das Umgekehrte nochmals umkehrt, ist es schwierig, in den sorgsam gesetzten, Kreise, kleine Wiegeschritte, Linien und Streckungen vollziehenden Händen das wiederzuerkennen, was man vielleicht aus der Tanzstunde kennt. Vielmehr wirkt „Standard“ wie das Ritual geheimnisvoller Vierfüßer, die uns nur manchmal zwischen den Beinen oder Armen hindurch ansehen.

Das Tanzmainz-Festival endet an diesem Wochenende, mit seiner schönen Fülle und Vielfalt hat es Lust auf noch mehr Fülle und Vielfalt geweckt. Man möchte tief seufzen (die unvergleichliche Solène Weinachter hat ja in „Antigone“ das gemeinsame Seufzen angeleitet), weil das fünfte Tanzfest des Staatstheaters erst in zwei Jahren wieder ansteht.

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