Erinnerung an den Regisseur und Intendanten Jürgen Flimm: Das Poetische mit dem Politischen versöhnen

Zum Tod von Jürgen Flimm, der 81 Jahre alt geworden ist
Es war 1979, am Kölner Schauspielhaus, dessen Intendant er gerade geworden war, inszenierte Jürgen Flimm, mit Katharina Thalbach in der Titelrolle, Kleists wundersame Geschichte des Käthchens von Heilbronn. Am Ende der Aufführung, die böse Kunigunde der vorzüglich disponierten Elisabeth Trissenaar verhöhnt und weggeschleppt und Käthchen doch noch die Braut des Wetter vom Strahl geworden, gingen die Schauspieler und Schauspielerinnen nach hinten ab, in der Rückwand der Bühne öffnete sich auf halber Höhen ein Ausschnitt, der den Blick freigab auf eine Kölner Straße neben dem Theater. Da waren sie wieder zu sehen, sie schauten von draußen herein auf die nun leere Bühne, wartend an einer Ampel, bis sie von Rot auf Grün wechselte, ein Passant hielt irritiert inne.
Die Szene verlängerte die Aufführung, deren Bühne dominiert wurde durch ein Schiff, Narrenschiff wie im Karneval, ins öffentlich Allgemeine von Köln am Rhein. Die Frage, die sie stellte, ist bezeichnend dafür, welchem Auftrag der Theatermensch, der Flimm in jedem Augenblick war, sich verpflichtet wusste: Als Regisseur wie dann auch, nach sechs Jahren in Köln, als Intendant des Thalia Theaters in Hamburg, später als Verantwortlicher für die Salzburger Festspiele und zuletzt als Opernintendant in Berlin ging es ihm um die Versöhnung des Poetischen mit dem Politischen – auf der Höhe der Zeit.
Es war diese Welthaltigkeit der Kunst, die Jürgen Flimms Engagement auch außerhalb der unmittelbaren Theaterarbeit in viele Rollen drängte, so lehrte er Regie an der Hamburger Hochschule, war heftiger Streiter für die Berechtigung und die Rechte des Theaters, Präsident der Akademie der darstellenden Künste. Gefragt und ungefragt immer zur Stelle, wenn es ums Ganze ging. Er schaltete sich vermittelnd ein in die Konfrontation des Hamburger Senats mit den Hausbesetzern der Hafenstraße und stellte sich in seinem Thalia dem Wahnwitz der neuen Rechtsradikalen in Deutschland entgegen mit einem „Nie wieder!“-Programm, für das er Gleichgesinnte zusammenbrachte aus aller Welt.
In seiner Hauptrolle als Theaterdirektor war Flimm, mit einer Bemerkung Hellmuth Karaseks, „das pulsierende Zentrum seines Hauses“. Es war, wenn man ihn im Thalia besuchte und mit ihm durchs Haus ging, sehr auffällig, ohne dass er darauf demonstrativ Wert gelegte hätte, wie eng und freundschaftlich seine Beziehung zu allen war, die ihm hier begegneten, das bestandene Abitur der Tochter eines Beleuchters war ihm momentan wichtiger als alles andere. Darum funktionierte die Kommunikation im Haus so gut wie die nach draußen. Man darf sagen: Das Thalia Flimms war der bestorganisierte Theaterbetrieb des Landes. Gut war das, weil Flimm gelegentlich auch aushäusig (etwa an der Oper in Brüssel) inszenierte. Als Intendant war er der exponierteste Ehrenretter eines ganzen Standes.
Er hat sein Ideal eines welthaltigen, der Gegenwart nahen Theaters in den Inszenierungen von Dramen vergangener Epochen wie von Stücken aus heutiger Zeit immer hochgehalten – die Liste der Aufführungen ist ellenlang, allein in Köln waren es mehr als 30. Flimm war ein inständiger Verfechter eines Theaters, das von festen Ensembles geprägt sein sollte. Über alle Maßen liebte er seine Schauspieler und Schauspielerinnen. Große Namen darunter, von Quadflieg bis zu Hans Christian Rudolph, von Therese Affolter bis zu Elisabeth Schwarz, der Trissenaar und Giulietta Odermatt, Helmut Lohner und Susanne Lothar. Flimm hat allen, mit denen er arbeiten und träumen durfte, viel zu danken – wie nicht weniger sie ihm.
Der Mann war oft beschäftigt bis an den Rand seiner Kräfte. Manchmal hat man das an seinem Wirken auf der Bühne ahnen können, dann ging das mit der Spannung zwischen dem Träumen und der Wirklichkeit vielleicht ein wenig weniger gut. In der Erinnerung aber wird sich das nicht halten. Bleiben werden Jürgen Flimms Leidenschaft wie seine Menschenliebe. Und wie wunderbar schön es war, ihn und seine Susi kennenzulernen.
Sie haben ein Haus hinter dem Deich der Elbe. Man müsse an Flüssen wohnen, hat Jürgen dem Besucher einmal erklärt, „im fließenden Wechseln der Eindrücke gleichen sie Lebensbildern“. Am Elbufer gegenüber liegt Glückstadt.