Eine schutzbedürftige Institution

Was nicht sein darf, ist die Preisgabe der Städtischen Bühnen in der Mitte der Stadt.
Was ist das denn nun, wovon neuerdings so viel die Rede geht, „Heimat“? Jeder wird davon natürlich seine eigenen Vorstellungen haben – nehme ich, für mich, Frankfurt am Main als heimatlichen Ort, so hat das zuerst mit den Menschen zu tun, die mir hier teuer und wegweisend geworden sind, auch assoziiere ich die Lage der Stadt, mit dem Fluss, der sie zwar in zwei Hälften zu teilen scheint, hibbdebach und dribbdebach, jedoch nicht in zwei Charaktere, das eine Ufer bestimmt durch Institutionen der bildenden Künste, markant das andere durch die Architekturen der Potenzen der Wirtschaft und des Geldes, aber mitten darin auch wieder Museen und die, ja doch: moralische Anstalt Theater, deren interessierter Insasse ich so oft war.
Eine Kulturstadt. Mit Frankfurt am Main verbunden auch die Einflüsse einer Universität, die mich erzogen hat, von Lehrern wie Adorno und Horkheimer und Wolfgang Cramer, dem bedeutenden Erkenntnistheoretiker. Und die Prägekraft dieser Stadt erfasst sie auch als den Ort des Auschwitz-Prozesses zu Beginn der sechziger Jahre.
Das kommt alles zusammen. Wie denn auch dazu gehört, was reine Lustbarkeit war, trivial aber wichtig für viele: Die beiden historischen Endspiele der Frankfurter Eintracht, in Berlin, deutsches Endspiel, gewonnen mit Alfred Pfaff, den wir Don Alfredo nannten, und mit Frankfurts berühmtestem Ungarn, Istvan Sztani, das eine, und bitter verloren in Glasgow, Finale Europacup der Landesmeister, als Richard Kress, Drogeriebesitzer im Oeder Weg, uns gegen Real Madrid in Führung brachte und wir dachten, das würde so weitergehen und wurde dann doch ein Untergang.
Die Schönheit der sanften Höhenlinie der Hügel des Taunus, die Goethe zeichnend fixiert hat, als tröstendes Bild, wenn einem denn doch mal die Puste ausging.
Derjenige städtische Schauplatz aber, an dem so viel sich über viele Jahre hin als ein innerer Zusammenhang, als Lebenskontext, erweisen konnte und in unterschiedlichsten Konstellationen verhandelt wurde, ist das Theater gewesen, Fritz Rémonds Bühne im Zoo, jedoch vor allem das Theater der Städtischen Bühnen, in der Börse zunächst, dann, ab 1963, hier in diesem Haus. In den Genres des Schauspiels, der Oper und des Balletts, also in wechselnden formalen Ausprägungen führte und führt uns das Theater uns selber vor. Das vollständige Potenzial nahezu aller Gefühle, Neigungen, Reaktionsweisen und Stimmungen. Nicht nur, wie Menschen über andere Menschen denken und welche Handlungen sie ableiten aus ihrem Denken, sondern damit eben auch, was das zu tun haben könnte mit uns, die wir ihnen in der Darstellung durch Schauspieler, Sänger, Tänzer zuschauen. So wird im individuellen Erlebnis Theatergeschichte Gesellschaftsgeschichte.
Immerzu arbeitet das Theater am Menschenbild einer Gesellschaft, das heißt auch: Es schildert in immer anderen Ausschnitten damit auch dessen veränderliche Konturen. Diese Arbeit ist eine politische, indem sie die Aufmerksamkeit wachhält und schärft, für das, was vorgeht mit und in jedem von uns, und wie sich das addieren und auch eskalieren kann zu Vorgängen in unserer Umgebung. In der Tradition der deutschen Bühnen geschieht das in Häusern wie dem, in dem wir uns hier befinden. Im Zentrum der städtischen Gesellschaft, gleichsam in der Mitte des zu Verhandelnden.
Die Bedeutung der zentralen Lokalisierung für das Theater, jetzt in Frankfurt wieder ein Thema, war früh erkannt worden. 500 v. Chr. bauten die Athener sich ihr erstes Theater; am Südhang der Akropolis, mehr Mitte war nicht zu denken, ist es bis heute erhalten. Der Ort sollte es nach der Vorstellung des Ephialtes und von Perikles übrigens sein, an dem – finanziert von den Herrschenden – den Herrschenden sollte widersprochen werden können. Es gibt, bis in unsere Zeit der Diskussion von Kulturetats, kein schlüssigeres Argument für die Subvention der Bühnen. Von den steinernen Sitzplätzen jenes antiken Dionysos-Theaters, einer Freilichtbühne, konnte der Zuschauer über die Szene hinaus auf das Meer blicken. Damit war schon zu allem Anfang der dramatischen Kunst die Möglichkeit bedeutet, die bis heute die große Chance der Theaterarbeit ist: Nämlich das Nahe, Nächstliegende direkt vor Augen zu haben – und zugleich es in einem weit ausgreifenden Sinn wahrzunehmen.
Dieses Angebot von Nahsicht und Weitblick ist ein verführerischer Reiz. Ein Theaterbau muss dafür nicht wie im alten Athen am Meer liegen. Die Mittel der Verführung aber sind für die Bühne unverzichtbar. Tatsächlich enthält Theater durchaus ja auch die Komponente eines erotischen Flairs, nicht ohne Grund hat Peter Stein das Theater ein „Nachtgeschäft“ genannt.
Verführung kann auf das Richtige zielen, aber auch auf das Falsche. Das ist derzeit ja ein exponierter Sachverhalt. Und war es schon, als das Haus im Schauspiel 1963 eröffnet wurde mit gleich vier exemplarischen Premieren: Aufführungen von Goethes „Faust“ und Claudels „Der Tausch“, beide in der Regie des Schauspieldirektors Heinrich Koch, von Bertolt Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ inszeniert durch den Intendanten Harry Buckwitz und Sartres „Der Teufel und der liebe Gott“ in der Regie von Erwin Piscator – jedes der vier Dramen bewegt durch den Sog von Verführungen, die Personen immer zwischen Himmel und Hölle. Kritisch zeigten die Inszenierungen das Gefährliche an den Reizen der Verführung und wie rasch sich daraus nicht auflösbare Widersprüche ergeben können, der Stoff der Tragödie. Von heute aus bewertet ist das Stück Sartres das am direktesten aktuelle.
Verführung hat zum Korrelat den Prozess der Verwandlung – im Extrem soll ja Seduktion aus einem einen anderen machen. Es ist das Metier der Schauspieler, wie Peter Handke formuliert hat: „einer zu werden wie einmal ein anderer gewesen ist“ (in: „Das Mündel will Vormund sein“). Eine hochkomplizierte, geheimnisvolle, letztlich kaum erklärbare Umstellung ist das, wie sie im einzelnen Schauspieler möglich wird, oft wie ein Wunder.
Wunderbar ist tatsächlich ja schon, dass das Theater in einer Stadt Menschen wie diese Schauspieler und Schauspielerinnen zu unseren Mitbürgern macht, die vor Ort zeigen können, was die Lust an Veränderung alles vermag. Bei höchstem Risiko, es gibt ja unter uns wohl kaum ein höheres: Eben noch in der Straßenbahn ein Mann oder ein Fräulein Irgendwer – und nur eine Stunde später auf der Bühne der Prinz von Dänemark und Ophelia auf der Terrasse von Helsingör. Und wir glauben das denen!
Verwandlung auf der Bühne ist die Herausforderung zu begreifen, dass ohne sie auch jenseits der Rampe, im sozialen Gefüge wie im einzelnen Leben, alles Treiben sinnlos wäre. Ein Theaterbau wie dieser in Frankfurt am Main, hat sein Publikum viele Phasen des Wandels miterleben, mitunter auch erleiden lassen.
Große Zeiten, die wir erleben durften, vor allem in den siebziger Jahren, trotz aber auch wegen der Praxis der durch den fraglos bedeutendsten Kulturpolitiker seiner Zeit, Hilmar Hoffmann, installierten Mitbestimmung als der doch naheliegenden Idee des Rechts aller Beteiligten zu einer Mit-Entscheidung in den Fragen des Spielplans und der Ensemblebildung. Mit Peter Palitzsch und Hans Neuenfels haben die besten der Regisseure und Schauspieler des deutschen Theaters damals am Frankfurter Schauspiel gewirkt. Nur weil die Namen gleich viele andere mitklingen lassen, seien einige wenige herausgehoben: Luc Bondy und Klaus-Michael Grüber, Frank-Patrick Steckel und Peter Löscher und Augusto Fernandes als Regisseure; Elisabeth Trissenaar, Marlen Dieckhoff, Elisabeth Schwarz, Peter Roggisch, Traugott Buhre und Peter Franke als Protagonisten unter den Schauspielern.
Später, mutig und mit Haltung durchgestanden der Versuch des Intendanten Günther Rühle, Rainer Werner Fassbinder und Einar Schleef gegen starke Widerstände durchzusetzen. Mancher Glanz und mancher kritische Impuls auch ausgehend von den Aufführungen der Intendanzen von Adolf Dresen und Oliver Reese. Und gespannte Erwartung jetzt auf das, was kommt unter abermals einer neuen Leitung, nun von Anselm Weber.
„Schwör’ nicht beim Mond, dem wandelbaren, der immer rasch in seiner Scheibe wechselt, damit nicht wandelbar dein Lieben sei“ – so belehrt Julia in der Balkonszene der Liebestragödie Shakespeares den Romeo über ihre Liebe, die eben keine Liebelei ist, nicht wechselhaft, als er ihr seine Liebe beschwört. „Schwör’ nicht beim Mond, dem wandelbaren“ – Romeo solle nur schwören auf sich selbst. So verlangt auch jedes Bekenntnis zum Theater vom einzelnen Bürger wie von den politisch Verantwortlichen notwendig die Leistung, wie jede Liebe auch die für das Theater zu begreifen auch als eine Arbeit.
Was immer mit dem Frankfurter Haus in naher Zukunft geschieht – es ist als Institution an der Stelle, an der es sich befindet, jetzt unbedingt schutzbedürftig. Bedürftig unser aller inständigen Interesses und äußerster Aufmerksamkeit. Weil der Theaterbau jetzt in Frage steht. Hinter den Wänden und unter den Böden, wird uns glaubhaft versichert, sieht es übel aus. Zu fragen ist, warum das nicht früher gesehen wurde und die Schäden dann schrittweise zu beheben gewesen wären. Nun ist eine Gesamtsanierung offenbar unumgänglich. Die Kosten dafür liegen nahe tausend Millionen. Vielleicht könnte es günstiger werden, wenn nicht gleich alle Ausstattungswünsche der Theatermacher erfüllt würden. Selbst die beste Technik macht noch kein spannendes Theater.
Denkbar aber auch, den Bau der Architekten Apel und Beckert, obwohl er sich als ein Beispiel maßvoll moderner Architektur ästhetisch gut gehalten hat, zu ersetzen durch ein neues Haus, das mit seiner Erscheinung auch ein Zeichen sein könnte für den Geltungsanspruch Frankfurts in Europa.
Was einzig nicht sein darf, ist die Preisgabe des Standorts in der Mitte der Stadt – sie verlöre ihr Herz.