Eine Oper, die die Welt verändert

Søren Nils Eichbergs hoch reflektiertes Musiktheater "Schönerland" in einer sorgfältigen Uraufführung.
Die besonders künstliche Kunstform, die Oper, die sich ihrer Künstlichkeit aber auch besonders bewusst ist, thematisiert jetzt die große Flucht nach Europa mit Klugheit und Aufmerksamkeit. Geflüchtete und ihre Geschichten sind ja nicht nur triftig, wichtig, aufschlussreich und schrecklich, sie sind (deshalb) auch eine bühnenwirksame Ware. Das ist ein unheimlicher Umstand, der hier auf den Punkt gebracht wird: Die „Stückeschreiberin“ ist auf der Suche nach den Geschichten, will auch zuhören, den Geflüchteten eine Stimme geben. Die Geflüchteten aber wollen Hilfe, eine Zukunft, eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Sie entziehen sich der verlegenen Autorin (die auch nur ihren Job macht).
Nachher wird eine gewisse Scheherazade doch eine Geschichte erzählen. Das funktioniert märchenhaft gut, vorerst ist sie sicher. Die Geschichten sind eine Währung.
„Schönerland“ heißt die erste große Oper des deutsch-dänischen Komponisten Søren Nils Eichberg, 1973 in Stuttgart geboren, in Dänemark aufgewachsen, heute in Berlin lebend. Die Auftragsarbeit des Staatstheaters Wiesbaden hatte jetzt ihre Uraufführung im Großen Haus in einer sorgfältigen, angemessenen Inszenierung von Johanna Wehner. Ein großes Projekt.
Therese Schmidts Text reflektiert in zehn Bildern die Situation von Flüchtlingen und schiebt die Geschichte eines ambitionierten Intendanten (er will eine Oper, die die Welt verändert), des beflissenen Komponisten und der bereits erwähnten gescheiten Autorin hinein. Zu einem Kulminationspunkt hin überlagern sich die Handlungen – der Intendant gerät in den Flüchtlingsstrom, ist aber zu alt, um an den Schleusern vorbei auf eines der Boote zu kommen, verwahrt sich auch gegen diese Verwicklung. Er hat schließlich Pläne für eine Oper. Das Theater will nah dran sein, aber es will auch in Ruhe arbeiten können.
Im Zentrum freilich auch hier die Geflüchteten, ihre Entwurzelung, Aussichtlosigkeit, Angst. Die Bühne von Volker Hintermeier zeigt einen gewaltigen Trichter (kein, kaum ein Hinauskommen für die, die unten sind), oben eine Galerie mit Containern, die unter anderem ein behagliches Arbeitszimmerchen im Theater beherbergen. Der Chor der Geflüchteten trägt zunächst eine kulturell möglichst unspezifische Kleidung (Miriam Draxl). Schwer zu sagen, ob die Guantánamo-nah (container-)rostroten Overalls, die später zum Einsatz kommen, eine glückliche Wahl sind. Eichberg, Schmidt und Wehner heben ja gerade klug auf das Allgemeine ab, das immer in tausend Schicksale zerfällt, seit Menschen sich in großer Zahl auf die Flucht machen mussten.
Tatsächlich kann man an Anna Seghers’ ebenso konkreten wie mythologisch aufgeladenen Roman „Transit“ denken. Dazu passen etwa auch die sich überkreuzenden, widersprechenden Informationen zu den Fluchtmöglichkeiten. Eine falsche Entscheidung und man ist verloren. Die Nähe zu Seghers hängt mit Schmidts konzentriertem, oratorisch wirkendem Text zusammen, aber auch mit Eichbergs Musik. Es ist eine Musik des 20. Jahrhunderts für ein weitgehend klassisches sinfonisches Orchester, mit scharfen Rhythmen, eher zurückhaltenden Ausflügen ins tonal Unvertraute, mit Zügen ins Kinohafte, aber in eine scharfe, unsentimentale Kinohaftigkeit. Der Dirigent und Wiesbadener Chordirektor Albert Horne leitet das mit Übersicht an, hilft den Solisten durch delikate Rhythmusverschiebungen hindurch.
Aus dem in dieser oratorischen Situation mehr sängerisch als darstellerisch geforderten Chor als Hauptdarsteller treten einzelne Figuren vor. Sie sind typisiert und doch individuell: Eleni Calenos darunter als Saida, die sich keine Illusionen macht, aber nicht aufgibt, Romina Boscolo als wahrlich erhabene Aliyah oder der geflüchtete syrische Schauspieler Feras Zarka als „Der Syrer“, der dem Intendanten vorsprechen darf. Der Intendant wird sich melden (wird sich also nicht melden).
Zwischen Singen und Sprechen bewegen sich die drei vorzüglich besetzten Theatermenschen: Thomas de Vries als energischer, ein bisschen eitler Intendant mit mächtigem Durchsetzerbariton, Erik Biegel als schlingelig eilfertiger Komponist mit Mime-Tenor (interessant, wie Eichberg sich also selbst platziert), Britta Stallmeister als sehr hoher Sopran, die selbstbewusste und doch skrupulöse Autorin (in der man wiederum Therese Schmidt erahnen darf).
Eine starke, vom Premierenpublikum auch so aufgenommene Uraufführung. Gerade weil auch Wehners Inszenierung so entschlossen war, würde man gerne einen weiteren Versuch mit dem wirkungsvollen Werk erleben. Zu schade, wenn das letzte Wort schon gesprochen wäre, welches man sich aber nicht entgehen lassen sollte. Er wird sich melden, sagt der Intendant zum jähen Schluss, und man weiß, was das heißt.