Ein ukrainisches Mädchen träumt

Kultur in höchster Gefahr: Die Exilpremiere von Luda Tymoshenkos „Zal’ot“ in Stuttgart.
Es gebe inzwischen ein neues Genre in Kiew, berichtet Dmytro Veselskyi, das Bombenkellertheater. Es schwingt finsterer Witz mit, wenn er das sagt, es ist aber sicher auch eine Möglichkeit, wenn nichts anderes mehr geht. Das 1989 gegründete Malyi Teatr, das Kleine Theater, das Veselskyi leitet, habe selbst keinen Keller, sagt er, und dürfe in seinen angestammten Räumen im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt darum gegenwärtig auch gar nicht mehr spielen. Man sei auf der Suche nach geeigneten Räumen.
Maryna Smilianets, stellvertretende Leiterin eines noch kleineren Kiewer Theaters, erzählt, dass es in ihrem Haus einen Keller gebe, in den das Publikum im Falle eines Bombenalarms fliehen könne. Man plane darum, den Spielbetrieb wieder aufzunehmen. „Wir müssen es versuchen.“ Drei Monate keine Aufführungen, für ein freies Theater bedeute das: „Wir werden dann nicht mehr existieren.“ Die Ensembles sind derzeit zersprengt, einige harren aus, andere sind in ungefährlichere Landesteile oder ins Ausland geflohen oder beim Militär. Kultur wird vernichtet, das gehört zu Putins Krieg. Was tun?
Smilianets ist auch Dramatikerin und Schauspielerin, als Autorin hat sie mit ihrer Kollegin Luda Tymoshenko vorläufig Zuflucht in Stuttgart gefunden, wo das Schauspiel sie als „Artists in Residence“ aufgenommen hat. Vorausgegangen ist ein Stipendium der Stuttgarter Akademie Schloss Solitude. Der Kontakt kam zustande, als das Schauspiel, wie Intendant Burkhard C. Kosminski berichtet, nach Kriegsbeginn früh nach Möglichkeiten gesucht habe, Kollegen und Kolleginnen zu unterstützen. Gesammelt wurden bisher nach Theatervorstellungen 80 000 Euro, die im Juni gestartete Residence soll Arbeits- und Aufführungsmöglichkeiten geben, die erste kam im Kammertheater schon am Pfingstwochenende zustande.
Weil alles an sich bereits fertig war. Am 24. Februar, dem Tag des Beginns der russischen Invasion, hätte in Kiew die Generalprobe zu Tymoshenkos neuem Stück „Zal’ot“ sein sollen. Nun konnten neben der Autorin die Schauspieler und Schauspielerinnen nach Stuttgart geholt werden, der Regisseur Yurii Radionov, der mit seiner Familie derzeit in der Nähe von Manchester untergekommen ist, und auch das Bühnenbild. Eine Exilpremiere. So etwas darf nicht passieren, und nun ist es trotzdem so weit. Eine geflüchtete Deutschlehrerin übersetzt das Vorabgespräch. Die Proben, sagt Radionov, seien so gut gelaufen, so viel Energie, so viele Ideen.
Tymoshenko erzählt von der Teenagerin Lida, Khrystyna Deilyk, die in den neunziger Jahren Flugbegleiterin werden will. Die alleinerziehende Mutter, Iryna Nakonechna, und sie haben nicht die finanziellen Mittel und die ebenso wichtigen Beziehungen nur durch einen Freund des verstorbenen Onkels. Der Mann, Sergiy Radchenko, wird dem Publikum seltsamer vorkommen als der vertrauensvollen Lida, die spät begreift, worum es ihm geht. An ihrer Seite (wie im Jugendtheater, das „Zal’ot“ aber nicht ist) steht ein lustiger, kluger Junge, Stanislav Veselskyi. Eine Coming-of-Age-Geschichte der direkten Art, minimalistisch und zugleich zauberisch dargeboten. Besonders magisch: das Küchenbüfett.
Ist ein Stück über Träume im Wildwestkapitalismus und in einem korrupten Patriarchat jetzt wie aus der Zeit gefallen? Eigentlich nicht. Es erinnert vielmehr daran, dass die ukrainische Gesellschaft in Bewegung ist, selbstkritisch, reflektiert, lebhaft. Jetzt ist das alles in höchster Gefahr. Es sei gut, hier zu sein und arbeiten zu können, sagt Luda Tymoshenko, aber nichts wünsche sie sich mehr, als wieder friedlich zu Hause leben zu können.
„Vergesst uns nicht“, sagt Regisseur Radionov, der Krieg gehe weiter, während sich die Menschen in Europa langsam daran gewöhnten. In der Aufführung auch viele Ukrainer und Ukrainerinnen, großer Jubel.