1. Startseite
  2. Kultur
  3. Theater

Ein Sommernachtstraum: Abkehr von der Wirklichkeit

Erstellt:

Von: Hans-Jürgen Linke

Kommentare

Auf geweihtem Boden: Ein Sommernachtstraum im Stadttheater Gießen.
Auf geweihtem Boden: Ein Sommernachtstraum im Stadttheater Gießen. © Jan Bosch

Magdalena Fuchsbergers märchenhafte Inszenierung von Benjamin Brittens Oper „Sommernachtstraum“ im Stadttheater Gießen.

Moment mal: ein weißes Kaninchen? In Shakespeares und Benjamin Brittens „Midsummer Night’s Dream“ kommt es nicht vor. Es ist wohl aus Lewis Carrolls Wunderland ausgebüxt und will jetzt, dass das Publikum ihm folge – in eine Theaterwelt, die aus Vorhängen, Wind, wenig Mobiliar und einem altgriechischen Schriftzug besteht. Transkribiert steht da das Wort „hagion“, was etwas wie „heilig“ bedeutet, durchaus aber auch „verflucht“. Wir verlassen die profane Wirklichkeit und orientieren uns auf geweihtem Boden.

Im „Sommernachtstraum“ im Stadttheater Gießen ist Benjamin Brittens Musik der wichtigste Träger und Begleiter dieser Orientierung. Sie definiert mit atmosphärisch präzisen Klängen und Farben, mit Zitaten und Stilzitaten, worauf sich das geneigte Publikum einstellen soll, und sie lenkt die Aufmerksamkeit ab von dem, was wirklich geschieht. Etwas wie Wirklichkeit wird hier erst einmal nicht gebraucht. Wenn Elfen auf die Bühne kommen, hören wir fragil-spröde, metallische Saitenklänge mit hohen Frequenzen, die Handwerker-Schauspieler werden von wohlgesetzter Blasmusik eingeführt, Menschen und Elfenkönigspaar mit ihren Beziehungswirren bekommen Musik, die zuweilen an eine Belcanto-Parodie erinnert. Das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Andreas Schüller widmet sich in fast kammermusikalisch reduzierter Besetzung der Musik mit großer Intensität, Präzision und Kompetenz.

Magdalena Fuchsberger hat die tragische Komödie, die idyllische Farce als freundliches Märchenstück inszeniert. Kleidung (Bühne und Kostüme: Monika Biegler) hilft dabei, den Überblick zu behalten, wer zu welcher Unterabteilung des Personals gehört: Der Kinder- und Elf*innenchor ist uniform, die zwei Menschenpaare tragen Grün und haben lange, rote Haare, Tytania und Oberon glitzern, Theseus und Hippolyta strahlen Seriosität aus. Das Kaninchen ist pummelig und herzig und hat längere Ohren als Bottoms Eselskopf, die mehrfach benötigten Zauberkräuter rieseln als nicht ganz gewichtslose Seifenblasen auf die Akteur*innen herab. Drogen sind hier nicht im Spiel. Der Streit zwischen Tytania und Oberon um ein irgendwie attraktives kindliches Elfenwesen, der bei Shakespeare das Chaos überhaupt erst auslöst, wird nebenbei erwähnt und erhält keinerlei problematische Dimension.

Wo aber ist Puck alias Robin Goodfellow? Überall und nirgends. Er ist Stimme aus dem Off oder wählt eine Person auf der Bühne, die ihm ihre Stimme borgt. Nur einmal ist er für einige Minuten zu sehen, ein Wesen unter schwarzem Stoff verborgen, das von Oberon für Fehler getadelt und herumgeschubst wird, was er geduldig und unterwürfig geschehen lässt.

Puck ist eine Projektion, die ihren Ort überwiegend im Vorstellungsvermögen des Publikums hat und von dort aus auf der Bühne Wirkung entfaltet, ohne immer sichtbar zu sein. So ist die Inszenierung auch eine Einladung, sich in die Wirren einer Innenwelt zu begeben, die die eigene sein kann und in der der lustig-dämonische Kobold sich im Zuschauerraum zu Hause fühlen soll.

Die Besetzung funktioniert in Gießen vorbildlich, das überschaubare Ensemble ist um vorzüglich arbeitende Gästen erweitert. Da die einzelnen Figuren bei Shakespeare und Britten mit klaren Eigenschaften ausgestattet sind, aber ohne kompliziertere Psychologie auskommen, ist in Bezug auf die zu spielende und zu singende Partie eher klare Konturierung gefragt als subtile Nuancierung.

Annika Gerhardts ist eine wunderbar strahlende, dominante Tytania, die in der Reflexion ihres merkwürdigen Traumes ohne Unsicherheit auskommt. Hermia (Jana Markovic) und Helena (Julia Araújo) sind zwei präsente, einander gewachsene Frauenfiguren. Sie leiden nicht, erscheinen nicht übermäßig verletzlich und sind zueinander, zu sich selbst ihren wechselnden Partnern nicht zartfühlend. Sie wehren und behaupten sich mit großer stimmlicher Klarheit.

Oberon (Meili Li) ist ein ausdrucksreich nuancierungsfähiger Countertenor, der den barocken Unterton der Inszenierung souverän trägt. Lysander (Johannes Strauß, Tenor) und Demetrius (Nikolaus Nitzsche, Bariton) kultivieren und differenzieren mit stimmlicher Kompetenz ihre Verwechselbarkeit.

Natürlich ist Handwerker Bottom der Herrscher im Sänger-Ensemble. Grga Peroš macht das in jeder Hinsicht vorzüglich, als herziger Darsteller-Tölpel wie als korpulenter Esel und parodistisch beweglicher Bariton. Und spricht dem Publikum aus der Seele, wenn er am Ende sagt, dass dies alles ein gänzlich unmöglicher Traum gewesen sei.

Stadttheater Gießen, weitere Vorstellungen am 19. und 25 Februar, 9. März, 13. und 21 Mai, 18. Juni.

Auch interessant

Kommentare