Dürrenmatts „Die Physiker“: Auf dem Trockenen

Der Belgier Stef Lernous und sein Team lassen am Staatstheater Kassel „Die Physiker“ in einem leeren Schwimmbecken herumrutschen.
Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“ ist mit einer schlauen krimiesken Handlung unterfüttert, die nur beim ersten Sehen oder Lesen voll durchschlägt. Durch doppelte und dreifache Böden nämlich, bis sich der politische und psychologische Grusel ganz entfaltet. Die Herrn Physiker haben zu kompliziert gedacht. Die Direktorin der Irrenanstalt, die Anfang der sechziger Jahre schon sensibel Sanatorium etc. genannt wird, ist so ungeheuerlich wahnsinnig, dass sie nicht zu stoppen sein wird.
Ihr Triumph und der doch recht üble Ausgang für die Titelhelden gehört zu den Aspekten, die in der Kasseler Inszenierung von Stef Lernous komplett wegfallen. Ein lustiger Tanz der Irren – und irre sind mittlerweile alle – beschließt den Abend mit provozierender Unverbindlichkeit. Das hat die Konstruktion nicht verdient, auch wenn sie gut 60 Jahre später nicht mehr taufrisch wirkt (obwohl der in Kassel beiseitegelassene Sinn des Ganzen, die Ethik der Wissenschaft, immer im Schwange ist, auch jetzt wieder neu und triftig). Und es ist ja nun auch nicht direkt taufrisch, den Text selbstironisch – also auch abgeschmackt, weil nichts so doof sein kann, dass es als Selbstironie nicht doch durchginge –, zur Klamotte zu verrühren.
Es gibt glatte Flächen, auf denen man auf Socken ins Rutschen kommt. Der gulliartige Eingang im Bühnenboden ist zugleich ein WC, Menschen und Requisiten kommen hier hinein, dann kann man am Abzug ziehen, was ohne Unterlass geschieht. Einschlägige Krimi-Akkorde begleiten sämtliche Momente, in denen sich Fragen stellen, und selbst, wenn viele Witze durch die Wiederholung immer besser werden, so gilt dies nicht für Witze, die schon beim ersten Mal ein paar graue Haare haben. Wenn es gilt, Bilder zu schießen, und der Kommissar schießt auf ein Bild – und das hat zwar nichts mit der Handlung zu tun, aber es ist ulkig –, dann ist es bereits beim zweiten Mal nicht mehr so ulkig. Es wirkt insgesamt 90er-Jahre-mäßig, sich angesichts der „Physiker“ mit allgemeinen Slapstick-Fragen beschäftigen zu müssen. Abattoir Fermé heißt die belgische Truppe um Regisseur Lernous, vom Staatstheater Kassel zum zweiten Mal nach Kafkas „Die Verwandlung“ (Anfang 2022) für eine Produktion engagiert.
Die Szene, kurios, aber ein Schauwert – an Schauwerten mangelt es ohnehin nicht –, spielt im Schacht eines leeren Schwimmbeckens, von Sven van Kuijk detailliert gestaltet und auf den zweiten Blick schön zu erkennen. Vor allem der gekachelte Boden mit den starken Höhenunterschieden ist eine reizvolle Verfremdung des Vertrauten (denn da oben haben wir alle schon herumgezappelt). Charakteristisch freilich, dass sich daraus keine Ideen für „Die Physiker“ ergeben, abgesehen vom Herumgeglitsche auf der tückischen Schrägfläche.
Das Schwimmbecken hat bessere Zeiten gesehen (vom Wasser ganz zu schweigen), auch die Kostüme (Tine Van den Wyngaert und Lernous) haben bessere Zeiten gesehen. Da die Gesichter kreidebleich, die Augen blutunterlaufen und die Damen heftig geschminkt sind, liegt der Gedanke nahe, unter Untote geraten zu sein. Das Ensemble gibt alles, und das ist eine Menge und erfüllt die Erwartungen an eine Komödienanstalt mit Schwung. Institutsleiterin von Zahnd dominiert das Leben im Becken, Iris Becher hält die Balance zwischen trockenem und grellem Humor.
Die andere Frau, die den Physikern fast den Schneid abkauft, ist Danai Chatzipetrou als besonders misslaunige Schwester Monika (dass es hier mal irgendwo auch um Liebe ging, kaum noch vorstellbar) sowie als geschiedene Frau Möbius mit ihrer extremblonden Kinderschar. Die Ex-Möbius gerät als penetrant joviale Trulle besonders deutlich in andere, in Fernsehsketch-Gefilde. Das geht immer, das ist selten weiterführend. Jakob Benkhofer als Möbius, Aljoscha Langel als Newton, Hagen Oechel als Einstein und Clemens Dönicke als Kriminalist sind die verlotterten Männer, lustig und austauschbar – nicht als Schauspieler, denn an Spielfreude mangelt es wirklich nicht, aber als Figuren. Ermutigender Beifall aber für diesen Jux.
Staatstheater Kassel: 29., 31. März, 1., 9., 23., 26. April www.staatstheater-kassel.de