„Daphne“ in der Staatsoper Berlin – Sie und er im Eis

Romeo Castellucci bebildert Richard Strauss’ Spätwerk „Daphne“ – mit der fantastischen Vera-Lotte Boecker in der Titelrolle.
Daphne“ wurde 1938 in Dresden uraufgeführt und gelangte wie andere Werke aus dem Spätwerk von Richard Strauss nicht mehr ins Kernrepertoire. Wäre das mit einem Libretto von Hugo von Hofmannsthal (der nicht mehr lebte) oder Stefan Zweig (der im Exil lebte) ebenfalls passiert? Bei der Neuproduktion an der Berliner Staatsoper, inszeniert von Romeo Castellucci, delikat und umsichtig dirigiert von Frankfurts künftigem Generalmusikdirektor Thomas Guggeis, war dieser Eindruck noch stärker als sonst. Castelluccis Rätselbilder und der irgendwie symbolisch aufgeladene, aber bei näherer Hinsicht erschütternd dürftige Text des Einspringers Joseph Gregor bekamen einander schlecht (Gregor war eine mindestens dubiose Figur in der NS-Zeit, es ist ein geringer Trost, dass schon Strauss, durch die spektakuläre Zusammenarbeit mit den Vorgängern verwöhnt, drei Opern lang wenig Freude mit ihm hatte).
Natürlich sah es, wie immer bei Castellucci, der auch die Ausstattung verantwortete, fabelhaft aus. Die Geschichte der sympathischen Fischerstochter, die von einem Hirten (dem unglücklichen Leukippos) und einem Gott (dem beinharten Apollo) bedrängt wird und Glück und Frieden durch die Verwandlung in einen Baum findet, spielt nicht mehr in bukolischer Landschaft. Der Italiener verlegt sie in ein Dauerschneetreiben, das bis in den Orchestergraben zu reichen scheint. Der Chor (einstudiert von Martin Wright) ist warm verpackt wie eine Polarexpedition, Daphne selbst hingegen so eins auch mit der widrigen Natur, dass sie weite Teile des Abends unbeschadet in Unterwäsche übersteht.
Im Hintergrund die Silhouette eines Waldes, gelegentlich Nordlichter. Die Sonne, für die Phöbus Apoll zuständig ist, scheint spärlich, einmal präsentiert der Gott sie als goldene Scheibe, einmal entdeckt Daphne sie in einer der Bodenluken unter dem Schnee, die ohnehin allerlei enthalten. Castelluccis Lichtkünste sind eine Freude, aber keine Deutung.
Der faszinierendste Moment: Unerwartet fördert der Chor ein unter dem Schnee verborgenes gewaltiges antikes Marmorfries zutage und richtet es auf. Apoll im weißen Anzug löst sich aus der fragmentarischen Figurenformation heraus. Die Vorstellung, im Eis die Überreste griechischer Kultur zu finden, ist eine unheimliche Zukunftsvision, und indem der Gott mit ausgegraben wird, hätte man gleich eine schön groteske „Die Mumie“-Horrorfilm-Variante. Daraus wird aber nichts weiter, im Gegenteil bleibt die Figur des Apoll blass, nicht nur weil der Sänger Pavel Cernoch einen schlechten Abend erwischt hat oder der kurzen, aber brutalen Rolle nicht gewachsen ist. Die ungeheuerlicher Szene, in der er sich als Gott zu erkennen gibt, absolviert er auch kurios beiläufig von der Seite. Castellucci ist vor allem damit befasst, den Tod geweihten Leukippos mit Theaterblut begießen zu lassen, das zuvor in einem Kanister auf dem „ER“ beschrifteten Sockel stand. Nach Apollos Abgang ist dort – Zauberei – „SIE“ zu lesen, ein frischer Kanister steht bereit. Das sind – wie die zahlreichen Masken – Castellucci-Mysterien, deren Ästhetizismus und Geheimniskrämerei nur locken, wenn sie dem Bühnengeschehen aufhelfen. Das ist im Fall von Apoll nicht so. Es ist auch nicht so, wenn zwischendurch die Titelseite von T.S. Eliots „Waste Land“ in gigantischer Vergrößerung heruntergelassen wird, obwohl das imposant aussieht.
Die Szene gehört stattdessen Daphne allein, der Sängerin Vera-Lotte Boecker, die sich Castelluccis Einfällen hingebungsvoll widmet, im Schnee herumspringt, sich die Kleider vom Leibe reißt, fröhlich, verwirrt, mit einer umwerfenden Zärtlichkeit dieser eisigen Weite und dem lachhaften armen Bäumchen gegenüber, das hier aus dem Schnee steht. Nachher wird sie es ausreißen – und sich selbst schließlich nach unten weggraben, vielleicht wirklich der Anfang eines neuen Baums.
Man muss Boecker nicht verstehen, um ihr hingerissen zuzuschauen, und ihr makelloser, jugendlicher und doch golden glänzender Sopran ist über alle Zweifel erhaben. Das gilt auch für das Orchester, das sinfonischen Strauss hören lässt, die Metamorphose selbst: ein Irrsinn.
Für die übrigens Figuren ist in Castelluccis Eiswüste wenig Raum: René Pape als ruhevoller Peneios, Anna Kissjudit als grandios farbenreiche Gaea und auch Magnus Dietrich als Jung-Leukippos verschaffen ihn sich aber zumindest stimmlich. Das Publikum sehr zufrieden.
Staatsoper Berlin: 23. Februar, 2., 5., 9., 12., 18. März. www.staatsoper-berlin.de