Claus Guth zur „Elektra“: „Mir graut jetzt schon vor einfachen Schlussfolgerungen“

Claus Guth über vielschichtige Regiearbeit und Inszenierungen, die auch eine KI prima hinbrächte, Musik, gegen die er allergisch ist, Wagners „Ring“, der ein Moratorium brauchen könnte – und seine „Elektra“ für die Oper Frankfurt.
Herr Guth, Richard Strauss’ Rolle in der NS-Zeit gibt mir Gelegenheit, Sie zu fragen, ob Politik und Künstlerdasein aus Ihrer Sicht zu trennen sind.
Richard Strauss gibt einem Rätsel auf. Vieles an ihm ist mir hochgradig unsympathisch, aber dann gibt es auf der anderen Seite dieses Phänomen, das ich bei keinem anderen Komponisten so erlebt habe: Wie kann dieser bayerische Bierkrugsammler gleichzeitig diese tiefblickenden Seelenschauen erschaffen? Da spricht dann doch einiges dafür, dass die Gleichung Künstler – Werk eine differenziert zu betrachtende Angelegenheit ist. Auch die politische Figur Strauss ist für mich Teil dieses Phänomens, dass Dinge nicht immer zusammenpassen. Es liegt mir fern, das Kunstwerk deshalb zu verachten. Aber ich kann es mir auch nicht wegdenken.
Wie beurteilen Sie die Debatte über Anna Netrebko?
Komplexes Thema. Ich habe in Moskau die „Salome“ gemacht, gerade als die Nawalny-Demonstrationen waren. Netrebko hätte übrigens die Salome singen sollen, dann war es aber Asmik Grigorian. In dieser Zeit habe ich sehr verschiedene Gesichter von Moskau und Russland kennengelernt. Die Distanzierung, die von denen verlangt wird, die dort noch Verwurzelungen haben, ist nicht so einfach, wie man es sich hier vorstellt. Trotzdem ist sie notwendig. Sie merken, etwas wirklich Kluges kann ich nicht dazu sagen.
Sie würden derzeit nicht in Moskau inszenieren, vermute ich.
Nein, eine weitere Arbeit war geplant, die habe ich abgesagt.
Sie haben einen starken Fokus auf den Werken von Strauss und Richard Wagner – wodurch unterscheiden sich die beiden für Sie als Regisseur?
Den Kosmos Wagner habe ich inklusive „Liebesverbot“ fast durchschritten, nur der „Rienzi“ fehlt. Derzeit ist das nicht mehr so meine Welt. Grundsätzlich horche ich eher auf bei sperrigen Sachen, die keinen so guten Ruf haben. Das war zum Beispiel der Fall bei Strauss’ „Daphne“ hier in Frankfurt, die damals noch schlichtweg als Schrott abgetan wurde. Aber der Abend gelang.
2010 gab es den Faust-Preis dafür.
Demnächst werde ich auch „Die Liebe der Danae“ inszenieren, ebenfalls ein Werk, bei dem man sagt: Na ja, muss nicht sein. Es gibt bei Strauss noch einiges zu entdecken, und diesen Eindruck habe ich bei Wagner nun gerade nicht.
Es gibt Leute, die inzwischen zum Beispiel für den „Ring“ ein Moratorium vorschlagen. Wenn man überlegt, wann man den letzten großen „Ring“ gesehen hat ...
Schwierig, ja, auch meinen eigenen „Ring“ in Hamburg würde ich nur sehr partiell als gelungen bezeichnen. Ja, dem könnte ich mich anschließen: Einfach mal ruhen lassen und warten, bis da wieder eine neue Dringlichkeit reinkommt.
Sie vermeiden es bis auf wenige Ausnahmen, Werke mehrfach zu inszenieren.
Die „Salome“ habe ich nur wiederholt, weil meine Berliner Inszenierung in Moskau und in New York nicht verständlich gewesen wäre. Und eine „Così fan tutte“ für Salzburg wollte nichts werden, nachdem „Don Giovanni“ und „Figaro“ doch etwas gewesen waren, so doof das jetzt klingt. Das hat mich so sauer gemacht, dass ich es wieder und wieder versucht habe, aber es wurde nicht besser. Also nein, Wiederholungen sind nicht mein Ding.
Aber auf Dauer gehen einem dann die großen Opern aus, oder?
Das Gefühl kenne ich noch nicht. Jemand hat bei mir etwa 120 Inszenierungen gezählt, schon krass, aber jenseits von Wagner hatte ich bisher nie den Eindruck, mit etwas durch zu sein. Im Zweifel würde ich mich ganz auf Uraufführungen und überhaupt Zeitgenössisches stürzen. Da ist enorm wichtig und zwingt einen, neue Theatersprachen zu erforschen.
Jetzt also Ihre erste und einzige „Elektra“. Wo finden Sie den Zugang?
Bei mir ist es ja häufig das Thema Familie. Immer wenn ich „Elektra“ sehe, denke ich: Mich interessiert gar nicht, was da meistens gezeigt wird, die düsteren Welten, das viele Blut. Nicht umsonst gibt es einen Elektra-Komplex in der Psychologie.
Eine überstarke Vaterbindung, die sich gegen die Mutter richtet.
Das, was sonst so monströs erscheint, wollte ich einmal runter dimmen und schauen, was für Spannungsverhältnisse im Kleinen sich dann zeigen. Da ist diese bombastische, aggressive, wüste, laute Musik, aber ich versuche nicht, dem visuell spektakulär auf gleicher Höhe zu begegnen. Erst in den Proben fiel mir auf, was das bedeutet, wenn Elektra auf Chrysothemis’ Frage, ob sie die Musik höre, antwortet: „Sie kommt aus mir.“ Darum geht es, um etwas, das aus dem Menschen kommt. Da muss ich die Dinge nicht ausmalen im wörtlichen Sinne.
Ist Elektra eher Täterin, eher Opfer?
Für mich ist sie eindeutig ein Opfer. Man muss sich die Geschichte der Atriden auf der Zunge zergehen lassen: Iphigenie wird geopfert für eine Idee, für etwas Höheres. Orest wird weggegeben, sozusagen aus dem Epizentrum entfernt. Und Elektra bleibt als Zeugin, vielleicht als letzter Sinnmittelpunkt der Familie. Wir haben einen Strich aufgemacht, der sonst praktisch immer da ist. Es gibt dort Textstellen über Agamemnon als übergriffigen Vater, das ist ziemlich extrem, man erschrickt geradezu.
Ist Elektra eine Schwester von Salome?
Zur Person:
Claus Guth, 1964 in Frankfurt geboren, hat in München Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft studiert, und anschließend Theater- und Opernregie. Seit den 90ern inszeniert er Musiktheater auf den großen Bühnen des Landes und der Welt. In Frankfurt zeigte er zuletzt Poulencs „Dialogues des Carmélites“, davor u. a. „Die lustige Witwe“, Händels „Rodelinda“ und „Il trittico“. Von Richard Strauss inszenierte er in Frankfurt bereits den „Rosenkavalier“ und „Daphne“, die wie seine hiesige Debussy-Arbeit „Pelléas et Mélisande“ den Theaterpreis Der Faust gewann.
„Elektra“, 1909 das Ergebnis der ersten Zusammenarbeit von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, war in Frankfurt zuletzt in der blutigen Lesart von Falk Richter zu sehen (Premiere war 2004 – Claus Guth liest im Interview zwar jenen die Leviten, die mit Schlagworten hantieren, aber dies zur Orientierung: Vielleicht erinnern Sie sich an die Guantánamo-Sträflingskleidung). GMD Sebastian Weigle dirigiert nun Guths Neuinszenierung, das Frauentrio übernehmen die Frankfurt-Debütantin Aile Asszonyi als Elektra, Susan Bullock (die Elektra von 2004) als Klytämnestra und Jennifer Holloway als Chrysothemis.
Premiere ist am 19. März, 18 Uhr, weitere Vorstellungen am 1., 7., 16., 21. April, 1., 5. Mai. www.oper-frankfurt.de
Wie ich „Salome“ inszeniert habe, in Berlin wie auch in Moskau, drehe ich den Spieß um und erzähle die Geschichte einer Befreiung. Der Ruf „Man töte dieses Weib“ verhallt folgenlos. Salome bricht auf und sprengt dieses sie erniedrigende und beengende System. Bei Elektra ist es eher umgekehrt. Es wird sie am Ende gewissermaßen innerlich sprengen, sie wird zugrunde gehen.
Ihr Kollege Tobias Kratzer hat einmal gesagt, das Publikum lobe oder kritisiere am Ende in allererster Linie die Ausstattung. Wie gehen Sie damit um? Und wie arbeiten Sie mit Ihren Teams zusammen?
Ungewöhnlich früh und mit einem permanenten Pingpong, würde ich sagen. Bei Größen wie Ruth Berghaus habe ich es als Assistent vor Urzeiten noch völlig anders erlebt. Sie und Erich Wonder tranken einmal Kaffee zusammen. Sechs Wochen später stellte er ein Modell hin, und sie dann so: Da brauche ich aber noch einen Schlitz zum Auftreten. Und das war’s dann. Unglaublich für mich, weil es bei mir maximal gegenteilig ist. Manchmal brauchen wir zehn Entwürfe. Auch diesmal war es eine schwere Geburt. Das einzige, was ich wusste und mit Katrin Lea Tag früh besprochen habe, war: Ich wollte, dass das gegen das Klischee hell und freundlich ist. Ein Ort, wo man auf besondere Schicksale schaut.
Was kann das für ein Ort sein?
Mir graut jetzt schon vor einfachen Schlussfolgerungen. Gerade sagte ein Probenbesucher zu mir: Ah, ich habe verstanden, das ist eine Psychiatrie, oder? Vielleicht ist es das, was Tobias Kratzer meint: Es ist so eine traurige Reduzierung, wenn sich alles auf ein Schlagwort verengt, das sich ja oft aus dem Bühnenbild ergibt. Dann denke ich: O Gott, warum hat man sich so komplexe Rollenporträts erarbeitet, wenn es am Schluss mit einem Schlagwort erledigt ist.
Was tun also?
Was ich ohnehin versuche, ist, eine Spur zu legen, sie aber mit einer anderen Spur zu kreuzen, so dass gewissermaßen Schichten entstehen. Was ich im zeitgenössischen Regietheater hasse, das kann ich wirklich so sagen: Diese Konzepte nach dem Motto, alles spielt da und da, und der Rest wird einfach runterdekliniert. Das ist so primitiv und berechenbar, das könnte eine KI auch. Mach mal bitte „Elektra“ im Hotel, und sie spuckt das einwandfrei aus. Das ist tödlich. Ich will dem Publikum Identifikationsmöglichkeiten und realistische Fragmente geben, aber dann muss ich da weg und mich in diesem Fall zum Beispiel mit Innenwelten beschäftigen, zum Geheimnis des Werkes vordringen. Es muss etwas kommen, das unbedingt über eine reine Transformationsverabredung hinausgeht.
Riesiges Orchester, eine Titelheldin, die praktisch ununterbrochen auf der Bühne ist. Sind es in der „Elektra“ auch äußere Gegebenheiten, auf die Sie Rücksicht nehmen müssen?
Ich kenne das Haus gut, und ich habe schon viel Strauss mit Sebastian Weigle gemacht. Ich wusste, es wird massiv. Darauf nimmt schon das Bühnenbild extrem Rücksicht. Und wir spielen meist auf den ersten sechs Metern hinter der Rampe. Man will eine Elektra doch in greifbarer Nähe haben, jeden Schweißtropfen will man erleben, und akustisch geht es sonst schnell nach hinten los. Wobei die Strauss-Orchestrierung so eine Sache ist. Er war Pragmatiker, kannte sich mit jedem Instrument aus. Gleichzeitig schreibt er Sachen, die balancetechnisch nicht zu lösen sind. Insofern kann man nur rückschließen, dass er auch da wusste, was er tut und dass dieses Zuviel, dieses Nicht-funktionieren-Können dazugehört.
Welche Tugenden braucht es für die Opernregie?
Da dürfte auf Platz eins doch stehen, ein Verhältnis zur Musik zu haben. Es gibt tatsächlich unmusikalische Opernregisseure. Das sehe ich nach fünf Minuten. Ob ich mich musikalisch mit oder gegen die Musik bewege, ist eine andere Frage. Ansonsten braucht es vermutlich Beobachtungsgabe. Und lernen muss man sicher, ich jedenfalls musste es, Menschen mit seinen Ideen auch zu begeistern. Früher habe ich versucht, mein Konzept durchzuboxen. Heute habe ich natürlich auch ein Konzept, aber ich lerne bei den Proben ständig dazu. Das ist vielleicht ein Vorteil, wenn man schon so lange dabei ist: die Ruhe und das Selbstvertrauen zu haben, sich nicht mehr schützen zu müssen, keine Angst zu haben, dass es schiefgehen könnte.
Gibt es Opern, die Sie gar nicht interessieren?
Ich habe eine ziemliche Belcanto-Allergie. Donizetti kommt mir nicht ins Haus. Verdi ist ein schmaler Grat, die späten Opern habe ich gemacht. Sonst interessiert mich fast alles. Ich habe früher sogar in Bands gespielt.
Welches Instrument?
E-Bass. Ich geh auf Elektronikmusikfestivals in Island und interessiere mich auch für jede außereuropäische Musikrichtung. Ich glaube, das einzige, was ich nicht mag, sind Schlager und Belcanto.
Und was würden Sie gerne inszenieren und werden nicht gefragt?
Ich weiß nicht, ob ich zu Alban Berg etwas ernsthaft Neues erzählen könnte. Aber meine Sehnsucht, mit dieser Musik einmal viel Zeit zu verbringen, ist so groß, dass ich es doch hoffe. Das Kapitel 20. Jahrhundert habe ich bisher weitgehend ausgelassen. Stockhausen würde mich reizen, Henze, mit dem ich früher viel Kontakt hatte. Und dann gibt es noch etwas ganz anderes. Durch den Händl Klaus/Haas-Abend „Bluthaus“, den ich in München mit Schauspielern vom Residenztheater gemacht habe, wurde mir klar, wie sehr ich die Arbeit mit Schauspielern liebe. Darum werde ich jetzt doch endlich mal ans Schauspiel gehen.
Wie ungewöhnlich!
Den Weg andersherum gibt es hundertfach, ein Klassiker.
Das ist eine völlig andere Art von Arbeit.
Aber es reizt mich sehr. Und so, wie ich inzwischen arbeite, bin ich dem auch schon ziemlich nah. Natürlich dürfte es ein Schauspiel werden, in dem Musik eine Rolle spielt.
Oh, es gibt konkrete Pläne?
Es gibt eine Verabredung, und ich bin an einer zweiten dran. Ich habe diese Neugier auf Dinge, bei denen ich erst mal gar nicht weiß, wie das gehen soll. Da gehen bei mir irgendwelche anderen Motoren an. Dadurch wird das Leben nicht weniger anstrengend, aber interessanter.