Choreograf Forsythe: „Damals rühmten die Städte sich der radikalen Kultur“

Frankfurts langjähriger Ballettchef William Forsythe über goldene Jahre, seine Erinnerungen an die Zeit des Aufbruchs und warum er sein Archiv ans ZKM übergibt
Herr Forsythe, als ich las, dass Sie Ihr Archiv ans Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe übergeben, habe ich mich als erstes gefragt: warum jetzt? Sie sind ja noch nicht einmal im Ruhestand.
Warum jetzt? Das Material muss jetzt behandelt werden. Es gibt teilweise sehr altes Videomaterial. Und wenn wir nicht sofort etwas unternehmen, geht vieles verloren. Hier haben sie die Mittel und die Expertise, das alles zu retten. Ein Riesenjob. Es ging um jetzt oder nie, now or never. Der andere Teil der Entscheidung war: Es gibt hier wirklich sehr gute Leute, alle sind sehr enthusiastisch, alle können was. Es ist sehr beruhigend zu wissen, dass man in guten Händen ist.
Ich habe selbst vor vielen Jahren zwei „Raubkopien“ von Aufführungen des Frankfurter Balletts erhalten, diese kann ich schon lange nicht mehr abspielen.
Super (lacht). Sie können sie dem ZKM schicken. Ich habe solche Bänder einst den Tänzern gegeben, damit sie sich das anschauen. Manche Bänder sind so oft abgespielt worden, dass sie wirklich nicht mehr funktionieren.
Sie haben dem ZKM auch Notizen gegeben.
Oh ja, ich habe unheimlich viele Notizen. Sogar noch von 1969. Das ist schon eine Weile her. Ich habe tatsächlich choreografiert, seit ich 13 war. 1969 war ich 19 und wollte choreografieren. Meine ehemalige Partnerin hat die Notizen gefunden, meine allererste Freundin vom Balletttraining hat eine Menge Fotos gesammelt. Dazu Briefe von mir, die ich ihr über meine Entwicklung, meine Karriere geschrieben hatte. Und sie ist bereit, alles ans ZKM zu geben. Es ist interessant, wie jetzt alle Leute kommen und sagen: Ah, ich hab was ... Es ist schön, denn man schafft wieder eine Verbindung zu den Leuten.
Und Sie schauen nicht erst, ob etwas zu persönlich ist?
Ich glaube, das ZKM wird schon ein wenig auswählen, Dinge weglassen. Aber es gibt nicht viel, das sensibel ist. Also die Notizen, die werde ich schon durchschauen. Obwohl ich glaube, da ist nichts Problematisches.
Direktor Peter Weibel hat im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit und diesem Archiv von der „Grammatik des Tanzes“ gesprochen, diese Grammatik könne man dem Material entnehmen.
Diese Grammatik ist nicht das A und O für mich, das ist eher die Anatomie. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir wirklich auch das Innere kennenlernen können. Kritiker zum Beispiel können anhand des Materials sehen: Ah, so ist dieses Stück gebaut. Wird darin dies und das sichtbar oder bleibt es bloße Theorie? Mein Ziel war es eigentlich, den Tanz-Alphabetismus zu fördern. Denn viele Menschen können Tanz nicht lesen und verstehen. Wir beide sind Experten, aber viele Leute gehen nicht in Tanzaufführungen, weil sie meinen, es ohnehin nicht zu verstehen. Ich glaube, diese Schwellenangst vis-à-vis Tanz ist Teil einer Angst, nicht kundig zu sein. Diese Schwellenangst habe ich schon länger versucht mit digitalen Medien zum Teil zu beheben.
Aber muss man die Menschen nicht erst durch eine Aufführung, durch reale Körper gewinnen?
Oh ja. Die digitalen Werke wurden hauptsächlich von Profis wahrgenommen, weil sie wissen wollten, wie ich es gemacht habe. Auch gut. Man kann nicht bestimmen, wo und bei wem die Sachen landen, wer sie nutzt.
Ich kann mir gut vorstellen, das Material nach der Aufbereitung zu nutzen, aber der Funke einer Live-Aufführung ...
...das ist unersetzlich, das ist ganz klar. Aber ich habe neulich eine gute Erfahrung mit einem Film gemacht. Es war einer über eine Arbeit für das New York City Ballet. Und wir haben mit dem Kameramann so gearbeitet, dass der Film den Look einer Live-Performance hatte. Das haben wir geschafft. Es sieht aus wie eine Live-Performance, hatte dieses Gefühl, aber es lief auch auf einer großen Leinwand. Aber live ist natürlich live. Live ist gefährlich, immer ist da die Frage, ob es klappt oder nicht klappt. Live riecht sogar. Nichts wird die Live-Aufführung wirklich ersetzen können. Ich glaube nicht an die reine digitale Welt, das Metaverse ist nicht mein Ding. Ich bringe nach wie vor Stücke auf die Bühne, klar.
Von John Neumeier etwa gibt es viele Stücke auf Video zu kaufen. Haben Sie in Ihrer Frankfurter Zeit bei den großen Stücken jemals darüber nachgedacht?
Ja, man kann Neumeier auch im Fernsehen sehen. Aber mein „Eidos:Telos“ (UA 1995, d. Red.) zum Beispiel, das Finale dieses Stücks ist ein wahnsinniges akustisches Ereignis. Viele meiner Stücke haben besondere Beleuchtung, zum Beispiel „Angoloscuro“. Das sind Werke, die existieren in vier Dimensionen, drei Raumdimensionen und der Zeit. Das Licht, die Akustik sind im Grunde eine weitere Dimension. Das ist im Digitalen nicht herzustellen. Deswegen habe ich meine Stücke nicht filmen lassen, obwohl ich viele Angebote hatte. Ich habe diesen Leuten gesagt: das ist ein Live-Stück, was daran verstehen Sie nicht? Ich habe ihnen gesagt, nehmen Sie eine Skulptur, würden Sie lieber das Bild dieser Skulptur zeigen oder die Skulptur? Eine Aufführung hat viel Information. Welcher Teil der Information muss bei einer Aufnahme bevorzugt werden zum Nachteil einer anderen Information? Sorry, aber ich fühlte mich nie verpflichtet, alles auf Video zu schmeißen. Im Gegenteil, wie Sie wissen, gibt es nichts (lacht).
Ich habe es immer bedauert.
Ja, but you were there! Sie waren im Publikum, haben es erfahren. Wie soll man „Angoloscuro“ auf Video machen, das wäre verrückt. Aber das ist okay. I don’t want to live forever, ich werde nicht versuchen, ewig zu leben. Die Stücke aber haben Leben, lebendige Menschen führen sie auf, lebendige Leute sind am Tonpult und Lichtpult, lauter Menschen im Miteinander. Da erst spürst du diese Zusammenarbeit, spürst Reaktionen.
Ich finde es durchaus bitter, und ich möchte fragen, ob es Ihnen auch so geht, dass in Frankfurt in den letzten Jahren so wenig von Ihnen gezeigt wurde.
Es ist eine verpasste Chance. Denn es hat 30 Jahre gedauert, ein solches Publikum aufzubauen, ein starkes Publikum. Es hat uns unterstützt, es war ein zufriedenes Publikum. Dann war das auf einmal uninteressant, war diese Millionen-Investition unwichtig, wurde gesagt, es sind nur 30 000 Leute, vergesst es.
Ihr Archiv soll nach und nach von O-Tönen begleitet werden, wie muss man sich das vorstellen?
Als Oral History. Kommentare zum Video. Tänzer erzählen von ihren Schwierigkeiten, das zu tanzen. Oder sie sagen: an dieser Stelle hatte ich meine Schritte vergessen, darum improvisiere ich. Oder: mir ist jemand auf den Zeh getreten, deswegen musste ich alles auf dem anderen Fuß machen. Oder: warum der Tänzer findet, dass das eine gute Vorstellung war. So gibt es immer Geschichten. Darin muss es nicht immer nur um Forsythe gehen – das ist mir fremd, das bin ich nicht. Ich finde diese unredigierten Kommentare interessanter. Mal sehen, ob wir das schaffen.
Zur Person:
William Forsythe , geboren 1949 in New York, wurde noch vom Choreografen John Cranko nach Deutschland geholt, nach Stuttgart. Von 1984 bis 2004 war er Ballettchef in Frankfurt, führte das Ensemble mit Werken wie „Artifact“, „Impressing the Czar“, „Limb’s Theorem“ oder „The Loss of Small Detail“ zu Weltruhm. Nach der Auflösung der Ballettsparte an den Städtischen Bühnen leitete er zehn Jahre lang die Forsythe Company.
Das Archiv Forsythes ist jetzt ans Zentrum für Kunst und Medien (ZKM, www.zkm.de) in Karlsruhe gegangen. Dort müssen vor allem die alten Videobänder umkopiert werden. Als erstes wird in Form einer Webseite wiederveröffentlicht werden: „William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye“ (1999).
Die Installation „Nowhere and Every-where at the Same Time, No. 2“ wird außerdem im ZKM vom 30. Juni an (bis 6. August) zu sehen sein.
Werden Sie in diesen Kommentaren auch choreografische Entscheidungen erklären?
Nee, nee, werde ich nicht. Roslyn Sulcas von der „New York Times“ schreibt ein Buch und hat dafür viele Tänzer interviewt. Diese gezielten Interviews gehen alle ins Archiv. Interviews über die Stuttgart-Periode oder die Frühphase in Frankfurt, die frühen 80er Jahre, Interviews mit mir oder mit Kollegen. Sie sprach zum Beispiel mit der Originalbesetzung von „Isabel’s Dance“, „Artifact“ oder „Impressing the Czar“. Sie hat ein gewaltiges Archiv, das ist eine Menge Zeug.
Sie sprachen von Tausenden von Aufnahmen auf dem Smartphone – ist das nicht erschreckend, diese unüberblickbare Fülle?
Man wird ja gezielt schauen können: hier sind die „Limb’s Theorem“-Videos, hier das „Barre Project“. Man würde nicht versuchen, alles anzusehen. Hier ist ein Projekt, hier sind die Videos, hier ein Kommentar dazu, Notizen von mir, von den Tänzern, vom Ballettmeister – und dann viel Spaß! Tony Rizzi (damals Tänzer, d. Red.) hat unglaublich viele kleine Dokumentarfilme gemacht, unglaublich gut auch. Er arbeitete im Spirit der Company, denn diese Company war nicht business as usual. Er hat diesen Geist verkörpert, der auch wichtig ist, dieser Geist des Machens. Eigentlich ist der viel wichtiger als das Endprodukt. Nicht: was wird gemacht, sondern wie wird es gemacht.
Aber ich hätte nun auch als Kritikerin das Gefühl, ich sollte noch dies gucken und das gucken, ehe ich über einen Abend schreibe ... dass nur hingehen und offen sein für Neues nicht mehr reicht.
Okay, sagen wir, irgendeine Compagnie X tanzt Stücke von mir. Dann kannst du vorher das Stück anschauen und sagen: ah, das ist so. Eine bevorzugte Aufnahme kann auch ein Sternchen bekommen, Bills Sternchen. Man kann vergleichen, denn die Stücke werden ja gespielt. Die Frage ist, wie wir das alles online kriegen. Aber das ist nicht mein Problem, das ist das Problem des ZKM.
Und worauf greifen derzeit noch Tänzerinnen und Tänzer zurück, die mit einer Company Ihre Stücke einstudieren?
Wir haben eigentlich alles selbst digitalisiert, nur in schlechterer Qualität, low resolution. Das andere war mir zu teuer, es war zu viel für eine Privatperson. Leider. Aber die Stücke, die mit anderen Compagnien inszeniert werden, da haben wir alle wichtigen Videos.
Und auch diese Videos werden in Karlsruhe landen?
Ja, alles, das sind insgesamt Terabytes, das ist unheimlich viel. A terrible situation. Aber Leute wie Tony (Rizzi), die gehen rein, finden was, sagen guck mal hier. Zum Beispiel ein Solo, das ich für Lynn Seymour vom Royal Ballet gemacht hatte. Oh mein Gott, ich hatte es komplett vergessen. Oder „Audiovisual Stress“, wir haben es in meinem ersten Frankfurt-Programm gezeigt, fast niemand hat es gesehen. Es gibt jedoch keine Videos von 1963.
Wenn man jetzt etwa „Gänge“ sieht, von 1982, kann man verstehen, warum das Publikum erst einmal geflüchtet ist: weil dieses Stück so dermaßen modern, ungewöhnlich war.
Erst gestern sprach Roslyn Sulcas, denn sie schreibt auch über diese Zeit, über die Reaktion der Kritik auf „Gänge“ – sehr interessant, denn sie spürten, dass irgendwas los war, aber sie wussten nicht, was. Das war der Anfang.
War es eine goldene Zeit, Ihrem Empfinden nach?
Ich denke, es war eine Zeit, die in der heutigen Stimmung nicht möglich wäre. Zum Beispiel war Geld vorhanden. Und alles geschah immer noch im Gefolge von 1968. Peymann, Axel Manthey, Achim Freyer haben gearbeitet, so viele interessante Leute waren am Theater, an der Oper gab es Neuenfels, Gielen – wow. Das war augenöffnend. Und ich dachte, warum nicht. Ich habe davon profitiert, dass die Städte stolz waren auf ihre Künstler. Wir waren nicht nur eine finanzielle Last wie heute, wo es heißt, Kunst, das kostet zu viel. Damals rühmte man sich der neuen, radikalen Kultur. Es war so viel los, und das Ballett war Teil davon. Wir haben den Zeitgeist gespürt, haben uns gefragt, okay, was wird von uns erwartet.
Aber Sie haben ja im Gegenteil das Unerwartete gemacht.
Ja, genau das – erwartet wurde das Unerwartete. Das ist nicht leicht, aber eine interessante Herausforderung. Jedes Stück war anders, jedes. Ich bin ein großer Fan von Sharon Eyal (israelische Choreografin, d. Red.), aber bei ihr bleibt die Form immer ziemlich gleich. Ich habe die Form bei jedem Stück verändert. Jedes Stück war eine neue Art von Arbeit. Es war verrückt, wenn ich jetzt darüber nachdenke. How did I do that? But I did.
Woher kam der Anstoß? Sie hätten doch auch beim Bewährten bleiben können.
Ich dachte, dass das ein Muss war, dass von mir erwartet wurde, dass es jedes Mal eine Neuerfindung gibt. Es schien mir selbstverständlich, dass man sich nicht wiederholt. Ich habe zum Beispiel „Vertiginous Thrill of Exactitude“ (1996, d. Red.) gemacht, mit grünen Tutus, und alle Leute dachten, ich mache einen Witz, eine Persiflage. Das ist heute der größte Hit, es wird weltweit ununterbrochen getanzt. In Frankfurt war das Publikum so sophisticated und so verwöhnt, dass es dachte: Forsythe macht einen großen Witz. Das Video von der Premiere ist sehr interessant, denn das Publikum lacht. An die Rückwand wird projiziert „Himmelblauer Hintergrund“ und die Leute lachten, man hört es gut. Super. Ballett als Witz, aber toll getanzt. It’s fun to be creative.
Ich werde oft gefragt: was macht eigentlich Bill Forsythe? Und ich muss antworten, dass ich es nicht wirklich weiß. Also, was macht Bill Forsythe?
Julian Richter und ich machen viel im Kunstbereich. In Museen, weltweit, von Nahost bis Japan bis Südamerika, Nordamerika. Die Kunstwerke haben ihr Zuhause in den Museen gefunden und das ist schön. Ich mache weniger und weniger neue Live-Produktionen, ich bin zwar für meine 73 Jahre fit, aber 55 Jahre choreografieren fordert seinen Preis. Ich muss realistisch sein, ich bin keine junge Person mehr. Ich habe Videos von 1990, 91, wow, da gab es Energie, Agilität, alles. Jetzt sagt der Körper: vielen Dank, aber nein (lacht). Leute fragen, warum ich jetzt mehr Ballett mache, Antwort: weil man nicht alles vormachen muss. Wenn ich eine Arabesque verlange, weiß jeder Tänzer, was ich will, man kann die Sprache verwenden, weil die Grammatik schon vorhanden ist. Das geht, absolut. Aber auch da merke ich, dass ich gewisse Sprünge vermeide, die eigentlich zum Vokabular gehören. Und so schrumpft die Breite des vorhandenen Vokabulars. Neulich hat mich jemand gefragt, in welcher Phase bist du? Ich habe gesagt, ich bin in der Phase der Qual. Aber ich bin damit glücklich, denn ich entdecke so viele Menschen, die es gut meinen mit mir. Alle wollen etwas beitragen, alle wollen mitmachen. Und ich kann es gar nicht stark genug sagen, wie gut das tut in der jetzigen Atmosphäre. Von Menschen umgeben zu sein, die sich einig sind über eine Aufgabe.
