Bellinis „Zaira“ in Gießen: Ihre Religion ist Liebe

Das Stadttheater Gießen widmet sich zu Recht und voller Zuneigung der vor 200 Jahre gefloppten Bellini-Rarität „Zaira“
Die Handlung von Vincenzo Bellinis „Zaira“, auf einem Stück Voltaires fußend, moduliert vertraute Elemente aus der „Entführung aus dem Serail“ ins Tragische (auch Mozart arbeitete an dem Stoff, seine „Zaide“ blieb aber Fragment). Kurz gesagt ist es, als hätte sich Konstanze längst in Bassa Selim verliebt, der dafür allerdings fabelhaft singen können müsste und zwar in Bass-Lage. Er heißt nun Osmone, sein Rivale ist auch nicht der Tenor, sondern eine Mezzo-Hosenrolle, der französische Ritter Nerestano. Er ist in Wahrheit Zairas Bruder, wie sich früh herausstellt, aber (unklugerweise) von den beiden allzu lange geheimgehalten wird. In Othelloschem Eifersuchtsrasen und Umkehrung aller bis dahin gelebten Tugenden – Toleranz, Geduld, Mitleid – bringt Osmone Zaira um.
Der einzige Tenor weit und breit ist der gegen Christen knallhart eingestellte Wesir. Ebenso hassen die anwesenden Christinnen und Christen die Muslime. Die sympathische, grenzüberschreitende Liebe zwischen Osmone und Zaira steht unter Dauerbeschuss. „Meine Religion ist die Liebe“, singt Zaira, Osmone hat aber ohnedies kein Problem damit, für sie zu konvertieren.
Dass die Uraufführung 1829 in Parma ein völliger Flop war, hängt diesem Werk des ansonsten von Erfolgen umhüllten Bellini bitter nach. Dass der Komponist manchen guten Einfall später noch einmal aufgriff, vor allem in „I Capuleti e i Montecchi“, festigte die kaum noch überprüfte Vorstellung, dass mit „Zaira“ etwas nicht stimmte. Im konstruktiven Programmheft des Gießener Stadttheaters kann der Dramaturg Samuel C. Zinsli aber überzeugend darlegen, wie die Auftragsarbeit damals in restlos außermusikalische stadtpolitische Stürme geriet, von der Intriganz eines abgewiesenen Librettisten bis zur temporären Festnahme des eigens angereisten bevorzugten Texters (Felice Romani). Er weigerte sich, seinen „politisch verdächtigen“ Schnurrbart nach parmaischer Gesetzgebung abrasieren zu lassen. Dazu mehrere Premierenverschiebungen. Danach nicht mehr viele weitere Chancen. Eine Oper zu inszenieren, ist aufwendig. Ist der Ruf ruiniert, machen die Theater einen Bogen.
Nicht so das Stadttheater Gießen, eine Schmuckschatulle, in der mindestens einmal in der Saison missachtete oder vergessene Musikperlen präsentiert werden. Wegen der ungewissen Corona-Entwicklungen wurde, was sich jetzt als Vorteil erweist, mit einem Arrangement für 13 Instrumente geplant. Herbert Gietzen, Komponist und ehemaliger 1. Kapellmeister sowie GMD in Gießen, sorgt mit einem Bläserquintett, vier Streichinstrumenten, Klavier, Harmonium, Harfe und einem übersichtlichen Schlagzeug für ein vielfarbiges, transparentes und pfiffiges Klangbild, von Jan Hoffmann am Pult mit entsprechender Finesse und Leichtigkeit ausgestaltet.
Vor allem Klavier und Harmonium machen Effekt, das ist – selbst oder gerade in seinen neckischen Sesamstraßen- und Kaffeehaus-Momenten – hörenswert auch jenseits der Notlage und für die anspruchsvollen Gesangspartien angenehm. Der Miniaturchor singt zwischendurch ein Stück, das nachher in „Norma“ wieder auftauchte. Es ist nicht schöner als die übrigen „Zaira“-Chöre.
Sopran und Bass als Liebespaar, ungewöhnlich, aber hier gleichwohl eindeutig keine Tochter-Vater-Konstellation. Naroa Intxausti und der Bassbariton Marcell Bakonyi meistern ihre heiklen und langgestreckten Partien ausgezeichnet, sie in gelegentlich überirdischen Höhen, er im Wohlklang heftiger und durchaus strapaziöser Bewegtheit (Strapazen, die man ihm aber nicht anhört). Zur ungewohnten Ausgangssituation gehört auch eine ungewöhnliche erste Auftrittsarie: Platz da für den nachher gar nicht so wichtigen Christenhasser und Wesir und seine virtuosen Sangeskünste, von Leonardo Ferrando mit passend schneidender Bravour vorgeführt. Na’ama Goldman als Ritter Nerestano füllt die Mitte dafür mit tief timbriertem Mezzosopran warm aus. Wie die Kammerorchestermusik werden die Stimmfarben nicht langweilig.
Die Inszenierung von Dominik Wilgenbus ist dezent und menschlich, so dass die fantastisch-karnevalistisch orientalisierenden Kostüme von Lukas Noll nicht peinlich wirken. In den Vordergrund rückt ohnehin Nolls Bühnenbild, das die kleine Bühne noch einmal in Kästchen aufteilt. Mit Treppen verbundene Kammern ermöglichen rasche Szenenübergänge, Einsamkeiten, Belauschungen, Ensembles (und die hygienischen Abstände waren bei der Planung vielleicht auch im Blick). Raffinierte Videos reichern das Geschehen mit attraktiven, kreiselnden Ornamenten an. Eng ist die Welt und ist es auf den Brettern, die die Welt bedeuten, fast zu eng für die Menschen und ganz gewiss zu eng für die Möglichkeiten ihres Herzens. Aber die Vorstellungskraft sprengt alles.
Beim unbefangenen Publikum in Gießen kam „Zaira“ sehr gut an.
Stadttheater Gießen: 29. Januar, 3. Februar, 6., 27. März. www.stadttheater-giessen.de