„Die Bakchen“ in Wiesbaden: Clubnacht der Mänaden

In Wiesbaden darf es einen schaudern, aber zu groß wird das Entsetzen angesichts der „Bakchen“ von Euripides / Raoul Schrott dann wohl nicht sein
Im Mob fühlt sich der einzelne vermutlich erst recht wie ein freier Mensch. Das Außer-sich-Geraten und das Loslassen, die unkontrollierbare und die willentliche Seite des Rauschs sind nicht so einfach voneinander zu trennen. Für jeden Nichtberauschten und überhaupt für alles Leben jenseits des Mobs ist das eine so grausig wie das andere.
Normalerweise erfährt man wenig darüber, was der wieder in seine Einzelteile zerfallene Mob im Nachhinein so denkt, sofern er denkt. Einiges spricht dafür, dass er mit Alibibeschaffung befasst ist. Ein solches könnte Agave nicht mehr helfen, den eigenen Sohn Pentheus hat sie im Wahn gemordet und wird es weder vor sich noch vor anderen leugnen können. Und wollen. Dabei war sie noch stolz darauf, trug seinen Kopf umher und glaubte wirklich, es sei der Kopf eines Tieres.
Die Bacchantinnen, die volltrunkene und marodierende Schar der Anhängerinnen des Gottes Dionysos, sind auch darum besonders erschreckend, weil Frauen das selten zugetraut wird und sie traditionell – jenseits etwa der Scheren während der Weiberfastnacht – kein Kriegsgerät mit sich führen. Was sie Arges tun, tun sie mit den Händen und den Zähnen, ein tierischer Nahkampf.
In Euripides’ „Die Bakchen“ werden sie damit zur Waffe, bestimmt zur Bestrafung und selbst bestraft. Ein junger Gott, über den man lieber lachen würde, verschafft sich hier Geltung, ein für alle Mal. Die Ausgangslage changiert damit so sehr zwischen dem Archaischen (der Gott lässt eh keine Wahl zu) und dem Anschlussfähigen (der Mensch ist eh ein Dummkopf ohne Übersicht), dass man nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll. In Wiesbaden inszeniert Sebastian Sommer, der im Kleinen Haus schon „Die Pest“ in einem fabelhaft rotierenden Bühnenbild gezeigt hat. Auch sein Blick auf „Die Bakchen“ (in der Nachdichtung von Raoul Schrott) ist eher verspielt und lässt Freiräume. Man kommt nicht gerade um vor Entsetzen. Die Kichererbsen in Reihe 6 haben vorerst ihren Spaß.
Optisch ist es schick. Wicke Naujoks’ Kostüme sind bunte Rüschenträume aus Seidenstoff, durchaus laufstegtauglich, vielleicht nicht ganz das, was man sich unter mänadischer Bekleidung vorstellt. In Videos (Astrid Gleichmann) wird Nacktheit soft und schemenhaft vermittelt, an sich zu stylish & karnevalistisch all das. Aber das Ensemble geht klug und reizvoll damit um: stoisch und seinerseits wie befremdet, ist es doch auch fremdbestimmt – von Sybille Weiser, Dionysos hier in Frauengestalt. Dionysos ist praktisch Sybille Weiser, deren durchdringende, eigenwillige Stimme auch dieser Rolle den eindeutigen Sybille-Weiser-Stempel aufdrückt. Das ist plausibel, kann der Gott doch sein, der er sein will. Zudem nimmt das ein wenig den Druck aus dem latent verächtlichen Blick des Dichters auf das andere Geschlecht.
Diese Verächtlichkeit vertritt auf der Bühne Matze Vogel (der Doktor aus Camus’ „Pest“) als widerständiger Pentheus, Agaves Sohn, der gar nicht daran denkt, den dahergelaufenen Gott anzuerkennen. Im kurzen Rüschenhöschen ist er nicht minder lachhaft als die Männer, die sich schon in große rosafarbene Gewänder geworfen haben, um dem neuen Gott zu huldigen. Noah L. Perktold als Tiresias und Benjamin Krämer-Jenster als Kadmos sind trotz ihres Aufzugs das einzige vernünftige Paar weit und breit, und obwohl Ironie im Raum hängt wie der aufziehende Nebel spielen sie es auch so: mit den Stimmen des gesunden Menschenverstandes.
Der Chor besteht aus einem Dutzend ordentlich kreischiger Frauen, die schlecht zu verstehen sind (die Mikroports helfen nicht) und die noch losgelassener sein dürften – sie sind schon ziemlich losgelassen, aber es gibt immer noch so einen Rest von Zivilisiertheit. Sie hören eine Art Technomusik (Jan Brauer, Esmeralda Conde Ruiz) – aber was ist eine Clubnacht gegen ein Bacchanal?
Aus ihnen wird sich am Ende Marie Luisa Kerkhoff als Agave herausschälen. Ihr allein gehört das Schlusslamento – eine ad-hoc-Tragik, von der bis dahin nicht viel zu sehen war. Es sind aber anregende 90 Minuten, es besteht Gesprächsbedarf.
Staatstheater Wiesbaden, Kleines Haus: 3., 4., 10., 18., 25. Februar, 3., 23. März. www.staatstheater-wiesbaden.de