Den Aufbruch wagen immer wieder

Unwiederbringliche Augenblicke: Dem Regisseur und Theaterleiter Peter Stein zu seinem achtzigsten Geburtstag.
Der Mann ist schwer zu fassen. Knallhart kann er sein, entschieden bis zum Bruchpunkt, zu punktueller, manchmal sogar beleidigender Schärfe jederzeit imstande, Widerspruch mitunter allenfalls mit Mühe duldend, wie einst im Mai jemand, der auf Autobahnen zum Überholen gelegentlich schon mal die Parkplätze durchrast – auch wenn er heute achtzig wird, noch immer ein bisschen jener Anführer des Gogo-Mobil-Clubs in der Kurstadt Bad Homburg, der er als halbstarker Filius liebenswürdiger Eltern aus gut-bürgerlichem Milieu einst gewesen sein soll.
Wird aber dieses Äußere durchsichtig, gibt’s den anderen Peter Stein, nicht hoch genug zu rühmen. Keiner hat nach Fritz Kortner, der für das Regieführen am Theater sein Lehrer war und ihm half, sich zu orientieren, mit größerer Aufmerksamkeit, Haltung, Empfindlichkeit, ja: Liebe auf die Dichter gehört und verstanden, ihre Werke zu lesen und auf die Bühne zu bringen aus dem Geist ihrer vergangenen Zeit und seiner eigenen Gegenwart. Das ist ihm wieder und wieder gelungen, weil er die Fähigkeit hat, die Kunst der Dichter wahr werden zu lassen durch die Kunst der Schauspieler. Das sagt sich leicht und ist doch so schwer zu machen, wie nichts anderes sonst am Theater. Weil es dabei um etwas sehr Rätselhaftes geht: um die Verwandlung von Menschen aus dem richtigen Leben, den Schauspielern, in die imaginierten Personen dichterischer Phantasie.
Auf der Bühne kann daraus eine Aufführung werden, ein ästhetisches, das Publikum bewegendes Ereignis. Den relativ prosaischen Betrieb der Produktionsstätte Theater jedoch als verantwortlicher Entscheider über Spielpläne, Engagements, Ausstattungen, Ausgaben und Einnahmen, sogar die Publikationen des Hauses zu führen, also an grauen Tagen alles zusammenzuhalten, was Voraussetzung ist für vielleicht einen leuchtenden Abend – die Funktion des Managers zusätzlich mit der eine Bühne definierenden, künstlerischen Arbeit des Regisseurs zu erfüllen, verlangt seltene Qualitäten und für den Erfolg auch eine besondere Art von Lust. Für fünfzehn Jahre nach der Übernahme 1970 wurde die von Peter Stein geleitete Schaubühne, zunächst am Halleschen Ufer in Berlin, dann am Lehniner Platz weit über den deutschen Sprachraum hinaus zu einer Pilgerstätte der Theaterkultur. Seinen Entschluss, die Intendanz aufzugeben, veröffentlichte er beiläufig im Lauf eines Gesprächs in einer morgendlichen Schulfunk-Sendung.
Kein Aufstieg im deutschen Nachkriegs-Theater war steiler
Kein Debüt eines Regisseurs war im deutschen Nachkriegs-Theater aufregender, auf Anhieb überzeugender als Steins Anfang 1967 an den Münchner Kammerspiel mit Edward Bonds „Saved“ („Gerettet“). Das Stück schildert die Geschichte sozial verelendeter Jugendlicher, deren Lebensverdruss sich ultimativ entäußert in der Steinigung eines Babys im Kinderwagen, einer Brutalität, zu der eine zarte Liebesbeziehung der Ansatz für ein Gegenbild ist. Und kein Aufstieg war steiler. Zu erkennen war hier wie auch in der folgenden Inszenierung Steins an den Kammerspielen von Brechts „Im Dickicht der Städte“ die Begabung des jungen Regisseurs für die dramatische Entfaltung der Szenen, das Gespür für die Entwicklung und die Steigerung von Spannung, für die Personen und ihr Verhalten kennzeichnende Details, und sein Sinn für den poetischen Augenblick der utopischen Aussicht auf eine Form der Existenz, die anders sein könnte als die gerade gelebte. Für seine vorgesehene dritte Arbeit in München, „Vietnam-Diskurs“ von Peter Weiss, wollte Stein im Zuschauerraum sammeln lassen für den Vietcong – weil er darauf bestand, veranlasste das seine Kündigung durch den Intendanten August Everding.
Der in München von Stein auch jenseits der Bühnenrampe gesuchte, von der Intendanz nicht gewollte Bezug zu dem Zeitstoff der weltweiten Proteste gegen den Krieg der USA in Vietnam, bestimmte dann, in anderer Ausprägung, die Aufführung von Goethes „Tasso“ am Bremer Theater, für die der dortige Intendant Kurt Hübner, um Welten couragierter als Everding, Stein nach seiner vorausgegangenen Darstellung von Schillers „Kabale und Liebe“ verpflichtet hatte. Die Premiere des Bremer „Tasso“ am 30. März 1969 wurde für das deutsche Theater zu einem historischen Wendepunkt in der Rezeption der Klassiker. Die Interpretation Steins und seines Mitarbeiters Yaak Kaarsunke war ein Abenteuer in drei einander bedingenden Phasen: Von der Abhängigkeit des realgeschichtlichen Dichters Torquato Tasso im 16. Jahrhundert am Hof von Ferrara, erste Stufe, handelte Goethes Gedicht, und zwar, zweite Stufe, als Spiegelung seiner eigenen Situation am Hof von Weimar, während die Bremer Aufführung, dritte Stufe, von der Abhängigkeit der Künstler handelte, wie sie von den Produzenten der Inszenierung in Westdeutschland am Ende der sechziger Jahre empfunden wurde.
Viele Zeichen gab es in jener Aufführung für die Disproportionen zwischen Kunst und Leben. Erfahrungen der Ohnmacht der Kunst und des kritischen Gedankens wurden bestimmend für die Epoche. Die Inszenierung bezeugte das. Jedoch nicht mit willkürlich-plakativen Eingriffen in die Struktur von Goethes Text, vielmehr intensiv sich einlassend auf dessen Sprachgestus wie auf den subtilen Manierismus der Haltungen und Bewegungen, den Stein in dem Gedicht entdeckt hatte. Über viele Jahre hin hat der Bremer „Tasso“ nachgewirkt: Wie es einst gefiel mit den Klassikern – ging’s fortan nicht mehr. Es ist eine Unart historischer Wenden, dass zuweilen deren Verursacher selbst sie später nicht mehr gutheißen: Peter Stein hat für seinen „Tasso“, sei’s drum, längst kein freundliches Wort mehr.
Er zog, Kurt Hübner war die Lust vergangen, mit den Schauspielern, die im „Tasso“ geglänzt hatten, Bruno Ganz, Jutta Lampe, Edith Clever, Wolfgang Schwarz, Werner Rehm, nach Zürich. Große Unternehmungen dort: Edward Bonds „Early Morning“ („Trauer zu früh“), „The Changeling“ („Der Wechselbalg“) von Middelton und Rowley, Zeitgenossen Shakespeares. Aber das Zürcher Publikum und auch Gruppen im Ensemble dort, wollten das alles nicht, weder den harten Realismus Steins, noch die poetischen Momente. Premieren wurden gestört, Schauspieler übler politischer Ansichten verdächtigt. Der aufrechte Intendant Peter Löffler tat, was er konnte – Stein und die Seinen aber mussten weichen. Als das Ensemble einige Jahre später für ein Gastspiel der Schaubühne nach Zürich zurückkehrte, wurde es umjubelt. Rauf und runter, so geht der Lauf der Welt.
Mit Stein kamen die Schauspieler nach Berlin
Nach einem kurzen Zwischenspiel in Frankfurt am Main, bei dem Stein gemeinsam mit Claus Peymann und Dieter Reible beinahe in ein Dreier-Direktorium zur Leitung des Schauspiels der Städtischen Bühnen geraten wäre, wurde er berufen, ein ehemaliges Studententheater, die Schaubühne in Berlin, zu übernehmen. Dass es zu dieser Berufung in die Leitung des Hauses am Halleschen Ufer überhaupt kam, war nicht der Überzeugung, sondern einer momentanen politischen Zwangslage des damaligen Kultursenators zu danken. Mit Stein kamen die Schauspieler nach Berlin, die er in Bremen und Zürich mit seiner Arbeit für eine weitere Zusammenarbeit gewonnen hatte.
Er begann Ende 1970 mit seiner Inszenierung von Gorkis „Die Mutter“, engagierte die berühmte Therese Giehse für die Titelrolle – früher Hinweis auf die Bedeutung, die für ihn die Verbindung des gegenwärtigen Theaters mit der Tradition hatte. Schon im folgenden Jahr entstanden die beiden Teile der Aufführung von „Peer Gynt“. Es war der Durchbruch, auch international. Das Großformat wurde zu einem Merkmal der Schaubühne, ausgreifende Unternehmungen mit oft wochenlangen Vorbereitungen des Ensembles, wie zumal 1974 das mehrteilige „Antiken-Projekt“ und zwei Jahre später die Abende mit Shakespeare. Um für die Inszenierung der „Orestie“ (Udo Samel in der Hauptrolle) in Stimmung zu kommen und das Verständnis der Texte zu steigern, war man zu Schiff in der Ägeis gewesen und für Tschechow nach Russland gereist. Kleists „Der Prinz von Homburg“ mit Bruno Ganz, Gorkis „Sommergäste“, 1978 die Aufführungen der Stücke von Botho Strauß, „Trilogie des Wiedersehens“ mit der flirrenden Libgart Schwarz als Susanne, Elke Petri, Werner Rehm, Peter Fitz und Otto Sander (als Richard mit einem der hinreißendsten Monologe je), dann fast am Ende des Jahres „Groß und klein“, Edith Clever als „Lotte aus Remscheid“, die suchend sich durch das Land und seine Gesellschaft bewegt – alles unvergleichlich genau gearbeitete Inszenierungen Steins, von denen ein großer Zauber ausging – vergangen, aber für ihre Zuschauer aus dem Gedächtnis nicht auszulöschen, zugehörig dem eigenen Leben.
Oft haben wir in den Aufführungen staunen dürfen darüber, wieviel an Welt und Schicksal sich auf einer Bühne verwirklichen können. Im vierten, letzten Akt von Tschechows „Drei Schwestern“ (1984) waren wir aus den Innenräumen der vorausgegangenen Szenen entlassen worden in das Landschaftsbild von Karl-Ernst Herrmann einer herbstlichen Allee hoher Stämme, die zu einem Flusstal hin abfällt, jenseits, in der Ferne, öffnet sich eine weite Gegend. Abschied ist in der Luft, die Offiziere verlassen die Stadt, die drei Mädchen bleiben, aneinandergeschmiegt, dreimal wiederholt Edith Clever als die Älteste, Olga: „Warum wir leben, warum wir leiden . . . Wenn wir’s nur wüssten“. Die Menschen und wie sie sich abwenden und einander sich zukehren, die Trennungen und dennoch das Hoffen darüber hinaus – für einen unwiederbringlichen Augenblick war da Tschechows Frage, was und wo denn das Glück sei, dann doch beantwortet: in diesem Theater.
Die Aufführung von „Drei Schwestern“ wird man eine Erfüllung nennen dürfen. Es war auch der Abend der von Stein für die Rolle der Irina entdeckten Corinna Kirchhoff, man musste weit zurückdenken, an Heidemarie Theobald als Viola 1963 in Kortners „Was ihr wollt“ vielleicht, um sich eines vergleichbaren Debüts zu erinnern. Es kam in dieser Irina alles zusammen, alles Hoffen-Wollen, alle Aufgeregtheit und alle Aufbruchswünsche von Jugend, mit aber auch einer Ahnung schon von Alter, Vor-Erfahrung von Vergeblichkeit, früher Trauer.
Zu spüren war der mitgestaltende Einfluss Steins auf die junge Schauspielerin. So wie er drei Jahre später an der Schaubühne Jutta Lampes ungeheuerlichem Wagnis Raum und gab und die Freiheit, die Übermacht der Liebesempfindung von Racines Phädra auf das ganze Ausdruckspotenzial eines Menschen zu projizieren. In die Darstellung der Frau aus weiter Ferne kam so auch ein heutiges Leid. Erzählt wurde von Aufbrüchen, die scheitern – und müssen trotzdem gewagt werden. Es war das schon 1972, als Wsewolod Wischnewskis „Optimistische Tragödie“ (Ulrich Wildgruber in der Rolle des Matrosen mit dem Schifferklavier, „gut für Stimmungen“) herauskam, das programmatische Motiv des Regisseurs und der Schaubühne solange Stein das vom Ensemble mitbestimmte Sagen hatte.
Von 1991 an hat er dann für drei Jahre das Schauspiel-Segment der Salzburger Festspiele verantwortet, selbst Shakespeares „Julius Cäsar“ und „Antonius und Cleopatra“ auf die Bühne der Felsenreitschule gestemmt und begonnen, sich als Regisseur im Opern-Repertoire (mit Verdi, Mozart, Alban Berg u.a.) zu behaupten. Große Auftritte aber auch immer wieder, das ist nun schon jüngere Theatergeschichte, im Schauspiel-Theater: Welch’ein Ereignis seine vollständige Vorstellung, auf eigene Rechnung riskiert, beider Teile des „Faust“ anlässlich der Expo 2000 in Hannover, ähnlich später sein „Wallenstein“, Brandauer in der Titelrolle wie in „Ödipus auf Kolonnos“ und als Dorfrichter Adam in Kleists „Der zerbrochne Krug“. Wagestücke allemal, auch die Arbeit 2010 mit jungen italienischen Schauspielern an der elfstündigen dramatisierten Fassung von Dostojewskis „Dämonen“ auf dem Landgut von Pancrazio in den umbrischen Wäldern.
Und es geht weiter. In wenigen Tagen wird in Prato nahe Florenz Steins Inszenierung von Shakespeares „Richard II“, voraufgeführt in Verona vor einigen Wochen, Premiere haben. Der Stoff hat ihn lange beschäftigt, es ist die Tragödie des Königs (den die renommierte italienische Schauspielerin Maddalena Crippa spielen wird) der, je tiefer er aus der Macht fällt, umso mehr gewinnt an Einsicht. Ein wenig ist auch Stein selbst dieser König. Viel von dem, was er mit seinem Denken, seiner Leidenschaft, seiner Haltung und seiner inständigen Arbeitsweise gewonnen hat für das Theater, ist gefährdet durch Formen des Verfalls, die nicht zu übersehen sind. Er mag an seinem großen Geburtstag rückblickend vielleicht sich fragen, was bewirkt wurde von seinen Theater-Taten. Keine Sorge, es wird als Herausforderung immer wichtiger, je ärger die Zustände. Darauf ist Verlass.- Glückwunsch also. Und Dank für so viel.