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„Anna Karenina“ am Gorki-Theater: Neue Ordnung

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Von: Ulrich Seidler

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Kulturkampf als Kampf der Frauen.
Kulturkampf als Kampf der Frauen. © Uta Langkafel

Oliver Frljic vereint im Berliner Gorki das Unvereinbare: Dostojewski und Tolstoi sowie das oben und unten im zaristischen Russland.

Eine halbe Stunde vor Ende der Inszenierung schickt Warwara Alexejewna Dobrosjolowa die Herren von der Bühne: „Bring die Männer raus, dass sie ein wenig frische Luft schnappen können. Sibirische Luft erfrischt Körper und Geist“. Anastasia Gubareva spielt die junge Näherin aus Dostojewskis 1848 veröffentlichtem Erstling „Arme Leute“, einem Liebesroman in Briefen, der in der Petersburger Unterschicht spielt und den der kroatische Theaterregisseur Oliver Frljic im Gorki-Theater mit Tolstois drei Jahrzehnte später entstandenen Roman „Anna Karenina“ zusammenrührt und reagieren lässt.

Die literarisch so sauber getrennten Sphären krachen gegeneinander. Die Tolstoi-Figuren mit ihren Ehr- und Liebesproblemen sind Repräsentanten der herrschenden Klasse, als solche sind sie verantwortlich für das Elend der Unterdrückten bei Dostojewski. In den beiden berühmten Texten – Realismus hin oder her – nehmen die Gesellschaftsschichten einander nur aus großer Entfernung wahr, mit einem nagenden Gespür für die Ungerechtigkeit, die ihnen aber dennoch schicksalhaft und gottgegeben erscheint. Immer wieder spricht der vergleichsweise sozialliberal eingestellte Gutsbesitzer Lewin (Jonas Dassler) von der Leiter: „Wir stehen oben, durch den Fakt der Geburt, für den wir nichts können, und die Arbeiter unten. Aber die Arbeiter stehen da nicht nur, sie halten die Leiter fest.“ Und – großes Versprechen! – durch Bildung und Reformen könnten sie den Blick heben und die eine oder andere Sprosse emporklettern. Tolstoi’sche Schwärmerei, die den Dostojewski-Figuren, die keine Chance haben und immer tiefer ins Elend rutschen, ein Schlag ins Gesicht ist.

Maxim-Gorki-Theater, Berlin: 20., 27., 29. September. www.gorki.de

Um es kurz zu machen: Die Leiter wurde 1917 umgestürzt. Und auch im Theater bleibt nichts, wie es ist. Die im Hintergrund über das Geschehen wachenden väterlichen Porträts wechseln von Alexander III. zu Nikolaus II. – und dann zu Lenin. Und als die Proletarierin Warwara allein mit den adeligen Damen bleibt, scheint sie den weiteren Verlauf der Geschichte schon zu kennen und nach einem anderen Ausweg zu suchen. Der Klassenkampf wird nicht nur als Kulturrevolution ausgetragen, aber auch als Befreiungsschlacht der Frauen. Wir wollen nicht verraten, wie es ausgeht. Nur so viel: Es knallen Schüsse, und es bleiben nicht viele Figuren übrig. Vielleicht ist das auch nötig, denn Kultur ist immer die Kultur der herrschenden Klasse. Fast am Ende lächelt natürlich Putin über seine Untertanen. Aber auch nicht lange.

Frljic lässt dramaturgisch nichts anbrennen. Die Adeligen tragen goldene Anzüge und Reifrockroben und latschen auf Brotlaiben herum, auf die sich die ausgehungerten und abgerissenen Unterschichtler stürzen. Wenn wir uns bei Tolstoi befinden, wird ein Flügel aus dem Schnürboden gelassen, und Daniel Regenberg spielt Schubert. Wenn die „Armen Leute“ zugange sind, hört man ein unheilvolles Ticken.

Auf der Bühne hat Igor Pauska ein Eisenbahnschienennetz ausgelegt – Symbol für die umgestürzte Leiter und für die Unausweichlichkeit des Schicksals. Das Bühnenpersonal kann sich dazwischen nicht viel bewegen und wird in Draisinen in die Szene und wieder hinausgeschoben. Da bleibt nicht viel Raum und Zeit für die Entwicklung von Figuren. Vielleicht drücken Lea Draeger als Anna Karenina und Emre Aksizoglu als Warwaras Liebe Makar deshalb mit ungebremster Routine auf die Pathostube. Am ehesten funktionieren die Eheszenen (mit Till Wonka als Karenin), weil sich allein durch die Anwesenheit des Kinderdarstellers zwingende Spielsituationen ergeben, die die Identifikationsfähigkeit von uns kleinbürgerlichen, im sozialen Konstrukt der Familie gefangenen Eltern im Publikum ansprechen.

Mit etwas mehr Konsequenz hätte Warwara auch uns Zuschauer erschießen müssen, um endlich eine neue Kultur zu etablieren. Zumindest die Männer.

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