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1918: Der Genosse, der kein Blut sehen kann

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Von: Sylvia Staude

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Als die Revolutionäre noch Grund zum Jubeln haben. 	Felix Holland
Als die Revolutionäre noch Grund zum Jubeln haben. © Felix Holland

Das Freie Schauspiel Ensemble mit einem langen Abend über „Die Unvollendete“, die Revolution von 1918.

Frankfurt a. M., den 12. Novem. 1918“: Die Fotokopie eines „Protocoll-Auszugs“ der Frankfurter Stadtversammlung wird zwischendrin an alle Zuschauer ausgeteilt, es geht dort in wenigen nüchternen Sätzen darum, dass die Stadtversammlung am 12. November die Arbeiter- und Soldatenräte „als höchste Vertretung der Stadt“ anerkennt. Man könnte das Blatt Lernmaterial nennen in einer Aufführung über das Jahr 1918, oder, wie es im Untertitel heißt, über „ein Stück deutsche Revolution“. Lernmaterial, denn dem Freien Schauspiel Ensemble ist seine jüngste Produktion „Die Unvollendete“, nun ja, etwas zu didaktisch geraten. Aber lehrreich ist sie.

Reinhard Hinzpeter, Leiter des Ensembles, und Sten Volkemer haben Texte unter anderem von Ernst Toller, Toni Sender, Oskar Maria Graf verwendet und die „Stenografischen Berichte“ vom „Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands“ im Dezember 1918. Eine Fleißarbeit sicherlich, die sie von sechs Darstellern sprechen lassen, die im engeren Sinn niemanden darstellen: Bettina Kaminski hält mal ein Stück Friedrich-Ebert-Rede, bekommt mal Worte Eugen Levinés, Mitbegründer des Spartakusbundes, in den Mund gelegt, aber wie alle Akteure trägt sie heutige Alltagskleidung und ist, je nach Bedarf, Kaiserchor, Demonstrantin, Kongressdelegierte.

Spielfläche ist eine Plattform – das Publikum sitzt auf drei Seiten –, auf dem Plattformboden ein Bild Kaiser Wilhelms mit Pickelhaube, teils verdeckt von blutigen Schlieren (Ausstattung: Gerd Friedrich). Drei Soldaten (Moritz Buch, Ives Pancera, Hans-Peter Schupp, auch sie aber viele andere) sagen sich, „es musste sein“, erzählen aber auch vom Grauen, das sie verfolgt. Drei Tage hat ein Sterbender geschrien, sie kriegen es nicht mehr aus dem Ohr, schon gar nicht aus dem Kopf.

Dann stehen sie (und Kaminski, Michaela Conrad, Jana Saxler) schon mit „hungerbösen Augen“ an um Essen, fordern den Streik und die Vernichtung aller Maschinen, fordern endlich Frieden. Aber auch: „Die Revolution muss kommen, muss“ – koste es, was es wolle. Und weil das Stück da noch veritables Theater ist, sind die sechs gleich nochmal andere und singen mit Elan Erich Mühsams „Der Revoluzzer“ über einen armen Lampenputzer: „Doch die Revoluzzer lachten / Und die Gaslaternen krachten / Und der Lampenputzer schlich / Fort und weinte bitterlich.“

Auf einer Länge von (mit Pause) drei Stunden ist der Start also ausgesprochen munter – und dennoch faktenreich. Dann jedoch verbeißen sich Hinzpeter und Volkemer in eine allzu ausführliche Dokumentation der Redebeiträge auf dem Reichsrätekongress vom Dezember 1918: Rätesystem versus vorgezogene Wahl zur Nationalversammlung war in Berlin ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Thema, es wird aber nun hier im Titania-Saal so lange dafür und dagegen argumentiert, bis man sich in einer Volkshochschul-Veranstaltung glaubt. Und dann soll das Publikum auch noch abstimmen, sich auf eine Seite schlagen; was keinerlei Erkenntnisgewinn ist.

Am Ende macht Regisseur Hinzpeter gleichsam selbst augenfällig, was dem zähen Kongress-Teil fehlt: Dass man Anteil nehmen könnte an den um einen politischen Neuanfang Kämpfenden. Zuletzt steht nämlich Ernst Toller im Mittelpunkt, der Dichter und „Genosse, der kein Blut sehen kann“, der dennoch glaubte, er müsse politische Verantwortung übernehmen in der Räterepublik. Auch Ives Pancera schlüpft höchstens zu einem Viertel in die Rolle, und schon treten auch die anderen hinzu und sprechen Toller-Sätze, dennoch wird greifbar, mitfühlbar, was diesen Menschen antrieb und, nach der Ermordung vieler Begleiter, erschütterte.

Freies Schauspiel Ensemble im Frankfurter Titania: 18., 19. Oktober, 1., 2., 8., 9. November. freiesschauspiel.de

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