Das Theater ist ihnen wurscht

Die Besetzer der Berliner Volksbühne stellen sich selbst einen Freifahrtschein aus. Es ist nichts anderes als die Instrumentalisierung der Kulturpolitik.
Das Spiel, das die Besetzer der Volksbühne betreiben, gibt sich naiv und ist doch perfide. Und sie sind damit erfolgreich. Sie instrumentalisieren die Kulturpolitik, sie beuten die symbolische Kraft aus, über die die Volksbühne noch verfügt, sie vereinnahmen die Presse, schmeißen mit Namen von Künstlern und von Mitarbeitern der Volksbühne um sich, die sie angeblich unterstützen, sie erheben sich mal ganz locker über jene, die von dem neuen Intendanten Chris Dercon engagiert wurden, um Kunst zu machen, indem sie behaupten, sie machten jetzt mal eben selbst welche. „Wir haben uns gestern gefunden, und jetzt wollen wir zeigen, dass wir es auch können“, sagt einer von ihnen lächelnd in die Kamera des Regionalsenders. Welche Arroganz.
Auch wenn sie behaupten, dass die Proben von Susanne Kennedy und Tino Sehgal von ihnen aus stattfinden könnten, stören sie die Abläufe und nehmen die Belegschaft in Beschlag. Ein ausgefallener Probentag reicht, um eine Premiere zu gefährden. Und es ist ein für immer verlorener Probentag, der am Ende fehlen wird. Der Kunst wird Gewalt angetan, während man selbst nett Kinder schminkt, Filme zeigt, Bierchen trinkt und Clubleben simuliert.
Diese Verletzung der Kunstfreiheit hindert die Besetzer nicht daran, dieselbe Kunstfreiheit in plumper Dialektik für sich in Anspruch zu nehmen, indem sie die Besetzung als Multimediaperformance deklarieren – vielleicht eine ironische Volte gegen den spartenübergreifenden Theaterbegriff von Chris Dercon. Vor allem aber die Ausstellung eines Freifahrtscheins, mit dem sie glauben, Gesetze übertreten und Schaden anrichten zu dürfen. Mit ihren politischen Ansinnen kassieren die Besetzer ihre Selbstdeklaration als Kunstschaffende sofort wieder. Da braucht es gar keine Dilettanten, die sich mal eben finden und was vormachen. Doch sie machen nicht nur keine Kunst, sondern auch keine Politik. Sie zerstören den demokratischen Zusammenhang, in dem sich die Debatte um die Volksbühne bisher abspielt. Sie setzen sich in aller Selbstzufriedenheit auf diesen Konflikt und verderben ihn.
Sowohl Dercon als auch Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke), die beide von den Gerüchten der Besetzung wussten und die Pläne offenbar nicht ernst nahmen oder es darauf haben ankommen lassen, zeigten vorschnell Verständnis für diese Ansinnen – irgendwas mit öffentlichem Raum und Gentrifizierung. Was vielleicht als ein abwiegelndes Entgegenkommen gemeint war, macht den Erpressern Mut.
Aus der künstlerischen wird eine polizeiliche Frage
Die Besetzer zwingen Lederer und Dercon dazu, sich zusammenzutun, denn sie stehen beide in der Verantwortung. Wer sie dem anderen zuschiebt, kann gleich zurücktreten. Am Montag erklärte die Kulturverwaltung entsprechend, dass „Intendanz und Senatsverwltung gemeinsam“ arbeiten wollten.
Der eigentliche Konflikt, den die beiden auszutragen haben, tritt in den Hintergrund. Die Argumente, die aufzeigen, dass die traditionsreiche Volksbühne von der Herangehensweise Dercons bedroht ist, rutschen in einer solchen Situation auf Nimmerwiedersehen von der Tagesordnung. Aber das ist den Besetzern wurscht, weil ihnen das Theater wurscht ist. Sie verramschen es als symbolischen Trumpf für ihre Zwecke. Es ist ihnen natürlich ebenso wurscht, dass die Dercon-Kritiker mit ihnen in eine Ecke gestellt und so diskreditiert werden. Das hat schon funktioniert, als irgendeine arme Seele in diesem Sommer vor Dercons Vorbereitungsbüro gekackt hat.
Die Kritik richtet sich gegen Chris Dercon
Die Besetzer zwingen einen dazu, die Diskussion zurückzudrehen bis zu dem Punkt, der längst verstanden war: Tim Renner und Michael Müller waren als verantwortliche Kulturpolitiker und Vertreter des wählenden Volkes berechtigt, Chris Dercon zum Intendanten der Volksbühne zu machen. Wohingegen Klaus Lederer, der Erbe dieser Entscheidung, nicht berechtigt ist, den Intendantenvertrag gegen den Willen Dercons aufzulösen. Es ging darum, auf die Spielregeln zu pochen und Dercon in die Pflicht zu nehmen: als Intendant eines Ensemble- und Repertoiretheaters. Nun haben die Besetzer dafür gesorgt, dass die Kritiker mit ihnen in einen Topf geworfen und sogar dafür verantwortlich gemacht werden, eine Stimmung erzeugt zu haben, in der solcherlei gewünscht ist. Lederer habe Dercon „zum Abschuss freigegeben“, sagt etwa Burkhard Kosminski, Intendant am Nationaltheater Weimar.
So steht es in der Süddeutschen Zeitung, die sich über „die schon jetzt meistbeachtete Premiere der Saison“ amüsiert und ein paar Intendanten gefragt hat, was sie in einer solchen Situation machen würden. Viele beeilen sich, Lockerheit zu demonstrieren. Zum Beispiel Matthias Lilienthal, der heute die Münchener Kammerspiele leitet und in den Neunzigern Obdachlose in die Volksbühne eingeladen, dann lieber wieder hinauskomplimentiert hat. Er rät zum Reden und zum Trinken. Kampnagelchefin Amelie Deuflhard ruft den Besetzern ein „Clever gemacht!“ aus Hamburg zu. Oliver Reese, der Neue am BE, hat „kein Verständnis für die Besetzung“, die ihm als eine „wirre und pubertäre Aktion“ erscheine und spricht von einer Lose-lose-Situation. Während Bühnenvereinspräsident und DT-Intendant Ulrich Khuon würde versuchen, den Besetzern einen Raum im Theater zur Verfügung zu stellen: „So könnten die Besetzer ihre Intervention ausformulieren.“
Dabei haben die Besetzer längst klar gemacht, dass sie zu Verhandlungen nicht bereit sind. Sie haben sich das Haus angeeignet und wollen es selbst bespielen. Und nun? Räumen? Bilder erzeugen, die den Besetzern nützen? Oder ein bisschen warten, bis hoffentlich der Zulauf versiegt, bevor alle Dercon-Pläne zusammenbrechen? Was tun? Ist das überhaupt noch eine kulturpolitische Frage, oder muss man das Problem der Erfahrung und dem Fingerspitzengefühl der Exekutive überlassen?