Der sanfte Umbruch

Wer passt eigentlich auf, dass der Mensch im Zuge der Digitalisierung nicht untergeht? Drei Autoren haben sich der Frage gewidmet, wie Philosophie und Meditation diese gefährliche Dynamik entschärfen können. Ein Buchauszug.
Von Frank E.P. Dievernich, Reiner Frey, Gerd-Dietrich Doeben-Henisch
Homo Sapiens heute Verglichen mit den langen Zeiträumen der Entwicklung des bekannten Universums (vor ca. 13,8 Mrd. Jahren), unserer Erde (vor ca. 4,5 Mrd. Jahren), des biologischen Lebens selbst (vor ca. 3,8 Mrd. Jahren) ist das Auftreten des Homo sapiens (vor ca. 200.000 Jahren) verschwindend kurz. Betrachtet man die Zeit seit der Gründung der ersten Städte (vor ca. 11.000 Jahren), seit dem ersten Computer (vor ca. 88 Jahren), seit dem Internet (vor ca. 48 Jahren), dann muss man sagen, dass wir Menschen uns seit kurzem mitten in einer Revolution befinden, in der digitalen Revolution, die das Zeug dazu hat, die bisherige Lebensweise des Homo sapiens so nachhaltig zu verändern wie es nur vergleichbar vielleicht mit der frühen Sesshaftwerdung des Homo sapiens ist (vor ca. 5.000 Jahren, als die Sumerer im Euphrat-Tigris-Becken sesshaft wurden).
Ein Grundzug der Digitalisierung des menschlichen Lebens ist der Aufbau einer parallelen, einer digitalen Welt, in der ungeheure Datenmengen eingelagert werden können, riesige Datenströme schneller als menschliche Gedanken von überall nach überall hin und her strömen können, Daten, die partiell Abbilder, Kopien, Modelle der realen Welt darstellen, in der Computerprogramme diese Datenberge geräuschlos verwalten, verarbeiten und in Maßnahmen um- setzen können. Der Homo sapiens mit seinem Körper für die Außenwelt und seinen bewussten kognitiven Prozessen in der ‚Innenwelt‘ wird über Schnittstellen mit der digitalen Welt verkoppelt und lebt immer mehr nur durch das Medium des Digitalen. Sein Körper, die Vorgänge in der Außenwelt, verlieren zunehmend an Bedeutung. Die wahrgenommene Außenwelt wird zu einem immer kleiner werdenden Segment der subjektiv gedachten und digital aufbereiteten Welt.
Falls der Homo Sapiens die Nutzung der digitalen Welt in der Zukunft nicht grundlegend anders organisiert, wird das einzelne, individuelle Gehirn zu einem bloßen Anhängsel einer neuen digitalen Galaxie, deren Beherrschung und Steuerung sich allen bekannten Kategorien aus der Außenwelt entzieht. Alle bekannten rechtlichen, sozialen und politischen Kategorien werden nicht mehr gelten. Ganze Staaten verlieren ihren Halt, weil ihre Bürger in einer digitalen Welt leben, die von einer Vielzahl von globalen Kräften beherrscht wird, die sich dem Zugriff des einzelnen, ja ganzer Nationalstaaten, entziehen. Die Welt nach dem Internet ist definitiv eine andere Welt geworden, und die Kräfte der Umgestaltung sind sehr stark, weil die Nutzung mehr Vorteile als Nachteile bringt. Dies zwingt alle in einen globalen Wettstreit, in dem nur der bestehen wird, der mehr, besser und schneller gestaltet als die anderen. Aus Sicht des einzelnen wird das Innere zum Bestandteil über-individueller globaler Algorithmen, in denen der Begriff ‚Bürger‘ und ‚Privatheit‘ und vieles mehr völlig neu definiert werden muss. Noch ist dies nicht vollständig umgesetzt, aber doch schon so weit, dass es uns aufwecken sollte. Ist es das, was wir wollen, was wir so wollen sollten?
Selbstvergewisserung Eines der wichtigsten Themen der Philosophie war und ist zu allen Zeiten das Thema der ‚Selbstvergewisserung‘: wer bin ich, der ich wahrnehme, empfinde, denke und handle? Bin ich das, was ich wahrnehme, empfinde etc. oder bin ich etwas davon ‚Verschiedenes‘, oder die ‚Synthese‘ aus all dem, oder etwas noch ganz anderes? Die Palette der Antworten ist so breit, wie die Zeit lang ist, darüber nachzudenken. Jeder Philosoph hat das Thema irgendwie neu moduliert; bis heute gibt es nicht ‚die‘ Antwort. Schon mittendrin in der digitalen Revolution, schon jetzt fast mehr im ‚digitalen‘ Raum als im ‚realen Körperraum‘, verschärft sich diese philosophische Fragestellung weiter: Wenn das, was ich wahrnehme, immer weniger direkt mit der realen Körperwelt korrespondiert, dafür immer mehr mit digital aufbereiteten Objekten, deren Herkunft zu bestimmen immer schwieriger wird, dann kann es passieren, dass sich das individuelle erkennende Subjekt über eine (digitale) Objektwelt definiert, die weitgehend ein ‚Fake‘ (ein willkürlich gesetztes Faktum) sein kann, einzig dazu da, den einzelnen zu manipulieren, ihn zu einem ferngesteuerten ‚Diener des Systems‘ zu machen.
Würde man diese aktuelle Entwicklungstendenz der digitalen Revolution so fortschreiben, wie sie aktuell in weiten Bereichen formatiert ist, dann könnte sie zur Auslöschung eines freien, kreativen Individuums führen. Denn selbst ein Individuum, das vom Ansatz her ein ‚freies‘ Individuum ist, kann durch die reale Einschränkung seiner realen Handlungen und der daran anknüpfenden Lernprozesse immer mehr jenen Ansatzpunkt verlieren, den Freiheit benötigt, um sich zu ‚materialisieren‘. Um dies zu verhindern, ist es notwendig, die aktuelle digitale Revolution in all jenen Belangen ‚umzuformatieren‘, in denen die zentrale menschliche Freiheit gefährdet wird. Statt den menschlichen Benutzer zu einem vollständig manipulierten Bestandteil einer Population von wertfreien Algorithmen zu machen, die von einzelnen narzisstischen, machthungrigen und menschenverachtenden Menschen global gesteuert werden, sollte man den digitalen Raum neu, von ‚unten-nach-oben‘ organisieren. Der einzelne Mensch muss wieder zum Taktgeber werden, die individuelle Freiheit, die Kreativität und in Freiheit geborene Werte müssen in einer freien Gesellschaft wieder ins Zentrum gerückt werden, und die diversen Algorithmen und Datengebirge müssen diesen individuellen Freiheiten in einer demokratischen Gesellschaft ‚dienen‘!
Eine Grundvoraussetzung für solch eine neue ‚Selbstvergewisserung‘ von ‚Freiheit‘ ist eine radikale, authentische Selbstwahrnehmung des ganzen individuellen Daseins, so weit wie möglich frei von manipulierten Fakten (‚fake news‘). Natürlich kann dies nicht bedeuten, dass der Mensch sich all seiner Erfahrungen, all seines Wissens ‚entleert‘, das wäre die andere Form von Versklavung in der Dunkelheit eines radikalen ‚Nicht-Wissens‘. Aber in all seinen Erfahrungen, in all seinem Wissen braucht es die Erfahrung ‚seiner selbst‘, wie man ‚faktisch ist‘, man ‚selbst‘, mit seinem ‚Körper‘ in einer Erfahrungswelt, die dem menschlichen Tun ‚vorgelagert‘ ist als das, was wir ‚Natur‘ nennen, die ‚aus sich heraus gewordene und werdende Wirklichkeit‘ der Erde im Universum, des Lebens auf der Erde, von dem wir ein Teil sind.
Natürlich, und das wissen wir mittlerweile durch das philosophische Denken im Einklang mit den empirischen Wissenschaften, haben wir Menschen niemals einen völlig authentischen, einen völlig ‚ungefilterten‘ Zugang zur ‚Natur‘. Einmal deswegen nicht, weil das menschliche Vermögen des Wahrnehmens und Verstehens aus sich heraus ‚konstruktiv‘ ist und wir die ‚Außenwelt‘ grundsätzlich nur im Modus unserer ‚Innenwelt‘ ‚haben‘, zum anderen deswegen nicht, weil wir selbst Teil dieser Natur sind und durch unsere Aktivitäten diese Natur mit verändern. Die erlebbare Natur ist von daher immer schon eine ‚vom Menschen mitgestaltete Natur‘! Je mehr wir dies tun, je mehr wir selbst als Teil der Natur die Natur verändern, umso weniger können wir ‚die‘ Natur ‚vor‘ oder ‚ohne‘ den Menschen erleben.
Dennoch, bei aller ‚Verwicklung‘ des Menschen mit der ihn umgebenden Natur, und heute noch zusätzlich mit der selbst geschaffenen digitalen Wirklichkeit, gibt es keine Alternative zu einer praktizierten Selbstvergewisserung mit vollem Körpereinsatz. Dies können intensive Formen körperlicher Aktivitäten sein – wie z. B. Gehen, Laufen, Fahrrad fahren, Mannschaftssport, Tanzen, Musizieren, … –, dies kann aber auch das ‚Meditieren‘ sein. Im Meditieren, mit dem Atmen als ‚Referenzpunkt‘, kann sich der einzelne mit all seinen Befindlichkeiten als ‚Ganzes‘ erleben, als direkt Gegebenes, mit einem ungefilterten Erleben, mit einer Feinheit des Erlebens, die nicht durch Alltagsrauschen ‚überdeckt‘, ‚maskiert‘ wird, und der einzelne kann darin nicht nur ‚physiologische Entspannung‘ finden, sondern auch – über die Zeit – durch seine erweiterte Wahrnehmung zu neuen, differenzierteren ‚Bildern seiner selbst‘ kommen, zum ‚Entdecken‘ von ‚Mustern‘ des Daseins, die über den aktuellen Moment hinaus auf Wirkzusammenhänge verweisen, die im Alltagsrauschen normalerweise völlig untergehen.
Darüber hinaus können sich – meist erst auf Dauer – Erlebnisse, Erfahrungen einstellen, die sich in spezifischer Weise ‚wohltuend‘ auf das gesamte Lebensgefühl eines einzelnen auswirken, die einen ‚gefühlten Zusammenhang mit Allem‘ ermöglichen, der das ‚Gefühl für das Ganze‘ deutlich verändert. Dieses ‚Wohlfühlen‘ ist ‚mehr‘ als physiologische Entspannung, es sind ‚Gefühle eines komplexen Existierens‘, zu dem nur biologische Systeme fähig sind, deren Körper aufgrund ihrer quantenphysikalischen Offenheit in allen Richtungen Wirklichkeit ‚registrieren‘ können. Auch das Thema sogenannter ‚mystischer‘ Erfahrungen gehört in diesen Kontext. Leider gibt es dazu kaum wissenschaftliche Forschungen, trotz vieler Phänomene, die der Erklärung harren.
Wirtschaft und Meditation Versucht man, die Gesellschaft als Ganzes zu betrachten, wie es beispielsweise die Systemtheorie tut, dann zeigt sich, dass diese aus unterschiedlichen Teil bzw. Funktionssystemen besteht. Es dürfte unstrittig sein, dass neben der Wissenschaft, der Erziehung, der Religion, des Rechts, der Politik, den Massenmedien, der Gesundheit vor allem die Wirtschaft das derzeit prägendste Teilsystem für das Gesamtsystem Gesellschaft ist. Die Wirtschaft dürfte zweifellos zum Leitsystem der anderen Teilsysteme geworden sein. Mit dieser Orientierung geht eine Funktionalisierung gesellschaftlicher Kommunikation einher. Sie besteht darin, und das verrät schon die Bezeichnung, zu fragen, welche Funktion etwas einnimmt. Es geht letztendlich um die Frage nach dem Nutzen. Die Nutzenfrage besitzt mittlerweile einen deutlichen ökonomischen Aspekt. Sinnvoll ist das, was sich als funktional, nützlich, verwertbar erklären lässt. Ein schönes Beispiel einer Funktionalisierung, das gleichzeitig zeigt, wie handlungsleitend gegenwärtig das ökonomische Funktionssystem ist, war in der Unternehmenskulturdiskussion der 1980er Jahre zu sehen. Kultur, eigentlich unverdächtig, Teil der Wirtschaft und des ökonomischen Kalküls zu sein, wurde plötzlich funktionalisiert betrachtet. Es wurde die Frage gestellt, welche Kultur ein Unternehmen haben sollte, um erfolgreich zu sein. Dieses Prinzip der Funktionalisierung, der Verwertungsfrage, findet sich heutzutage in Bezug auf fast alle denkbaren Themen, die plötzlich in das Scheinwerferlicht der Wirtschaft geraten.
Dabei ist festzustellen, dass es ja bereits ein ökonomisch lukratives Feld ist, eben die Gesellschaft nach Themen, systemtheoretisch würde man sagen, nach Kommunikationen (anderer Funktionssysteme) abzusuchen, die für das ökonomische System ein (positives) Verwertungsversprechen liefern. Dieser Verwertungsblick ist für die aktuelle Gesellschaft relevant geworden. Schärfer formuliert: Es scheint so, dass jeglicher gesellschaftlichen Kommunikation der Ruf vorauseilt, dass es für sie einen Markt geben könnte. Mit Bezug auf unser Thema wird damit klar, dass die Meditation – und dieser Beitrag hier soll dafür sensibilisieren – aus der kulturellen und spirituellen Sphäre bereits in das Feld der Ökonomie respektive der ökonomischen Verwertbarkeit eingetreten ist. Je mehr eine Gesellschaft einem Thema Interesse und damit Raum einräumt, desto größer werden die Fantasien nach einer ökonomischen, funktionalisierten Übernahme mit einem entsprechend attraktiven Preisschild daran. Das ist die eine Perspektive.
Die andere Perspektive bezieht sich darauf, diese „Preisschild- und Verwertungslogik“ der Wirtschaft zu brechen, wird ihr doch unterstellt, dass damit eine unwirtliche Rahmenbedingung menschlichen (Zusammen-)Lebens kreiert wird, die eben dazu führt, dass der Mensch sich zunehmend funktionalisiert fühlt und nur mehr eine Randnotiz ökonomischer Umwälzungen darstellt– in der Digitalisierung kann dieses Empfinden noch gesteigert werden, da der Mensch Gefahr läuft, nur mehr als „Datenbündel“ für das System funktionalisiert interessant zu sein. In diesem Zusammenhang wird ja öfter von der Entfremdung des Menschen von Gesellschaft und Ökonomie und darin von deren Organisationen gesprochen. Aber auch eine umgekehrte Form der Funktionalisierung ist zu beobachten: Es gibt Strömungen, die anstreben, dass eben durch Meditation die Wirtschaft eine andere wird – eine bedächtigere, verantwortungsvollere, nachhaltigere, langsamere, sich ihrer Konsequenten bewusste. Eine digitalisierte Wirtschaft, die nicht den Menschen steuert, sondern eine Wirtschaft, die durch den Menschen bewusst im Sinne eines guten, sozialen Lebens gestaltet wird. Meditation kann also als sanftes Veränderungsinstrument für eine, wie auch immer zu verstehende, bessere Welt gesehen werden, die den Menschen und seine Entwicklung in Einklang mit Natur, Gesellschaft und Digitalisierung versteht.