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Fall Relotius: „Das ist der berufliche und gesellschaftliche Ruin“

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Von: Christian Seidl

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Claas Relotius nimmt einen Journalistenpreis in Empfang. Kürzlich wurde er der vielfachen Fälschung überführt.
Claas Relotius nimmt einen Journalistenpreis in Empfang. Kürzlich wurde er der vielfachen Fälschung überführt. © dpa

Der „Spiegel“-Reporter Juan Moreno spricht in der FR über seine existenzgefährdenden Enthüllungen zu den Fälschungen seines Kollegen Claas Relotius.

Über Jahre konnte der Journalist Claas Relotius Geschichten fälschen oder frei erfinden, ohne dass es jemandem auffiel. Ganz im Gegenteil wurde er mit Preisen überhäuft und stieg zum Starreporter des „Spiegel“ auf. Vergangenen Herbst jedoch fielen seinem Kollegen Juan Moreno Ungereimtheiten in einer gemeinsamen Reportage auf. Gegen Widerstände im eigenen Haus ging er der Sache nach – und deckte den größten Skandal in der Geschichte des Magazins auf. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben.

Herr Moreno, wie fühlen Sie sich?
Wenn ich es könnte, würde ich sofort ein Jahr zurückgehen. Ich hätte wie damals ein paar Fragen an einen Text, den Relotius mit mir geschrieben hat. Die Redaktion hätte sie geklärt, und ich wäre raus gewesen.

Die Redaktion hat sie aber nicht geklärt, und deshalb sind Sie der Sache selbst nachgegangen.
Das war am Anfang eine reine Vorsorgemaßnahme. Ich war ja der Co-Autor der Geschichte. Ich war mit der Karawane unterwegs, die sich von Mittelamerika aus Richtung USA aufgemacht hatte, Relotius sollte zeitgleich eine der paramilitärischen Bürgerwehren begleiten, die den Treck an der Grenze erwartet. In dem Part, den mir Relotius dann schickte, damit ich meine Passagen entsprechend ausrichte und einfüge, sind mir dann ein paar Ungereimtheiten aufgefallen. Mehr war erst nicht. Aber es würde mein Name über der Geschichte stehen, deshalb wollte ich, dass sie stimmte. Und dann hat das eine Dynamik angenommen, die ich komplett unterschätzt hatte.

Moreno: „der Schuft, der dem Starautor vom „Spiegel“ was anhängen wollte“ 

Sie waren plötzlich der Schurke, der einen allseits beliebten und vielfach preisgekrönten Kollegen anschwärzen will.
Es war absurd. Und es wurde immer schlimmer. Bei jeder neuen Mail, bei jedem neuen Anruf, jedes Mal dachte ich: So, das war es doch jetzt, ich übergebe den Ball, und den Rest macht Ihr. Das ging, wie gesagt, mit ein paar Fragen los, und es war lange noch nicht vorbei, als mir klar war, mit der Geschichte gibt es ein massives Problem.

In einer Szene beschreiben Sie, wie Sie mit Ihrem Vorgesetzten telefonieren, um ihm Ihre Probleme mit der Geschichte zu erläutern, aber er will es nicht hören. Sie schreiben: „Das Telefonat, das war mir sofort klar, hatte mein Leben zerstört.“
Das war sonnenklar. Ich würde gefeuert und stünde in der Branche da als der Schuft, der dem Starautor vom „Spiegel“ was anhängen wollte. Da kriegst du kein Bein mehr auf den Boden. Das ist der berufliche und gesellschaftliche Ruin. Und dann bist du am Telefon und musst deine Schwiegermutter beruhigen, du seist doch auch ein guter Handwerker – das Holzdeck, das du zu deiner Hochzeit gebaut hast, das Häuschen, das du gerade renovierst. Und dann sprichst du wirklich mit deinem rumänischen Handwerkerfreund, und er meint, er habe Arbeit für dich, falls das mit dem Schreiben vorbei sein sollte. Das ist kein Witz. Das war eine sehr reale Situation.

Sie deuten im Buch an, dass auch Ihre Familie darunter gelitten hat.
Als ich weinend vor meiner Frau stand, war auch ihr klar: Hier kippt was, und zwar fundamental: der Mann, den sie kannte, das Leben, das wir hatten. Ich habe vier Töchter, und irgendwann stand die älteste, sie ist 14, in der Küche und meinte zu mir: Ich will unsere Familie zurück. Ich war ein Tyrann, ich war obsessiv mit diesem Thema, weil ich auch immer wieder an den Punkt kam: Irgendwo habe ich einen Fehler gemacht, irgendwas habe ich übersehen.

Moreno: „Da darf das Gespräch mit Relotius auf keinen Fall stattfinden, sonst stürzt er sich da runter“

Sie haben es bis zuletzt für möglich gehalten, dass Sie sich verrannt haben?
Sicher, als klar war, wo Relotius abgeschrieben hatte, wo er Biografien verfälscht oder frei erfunden hatte, wo Dinge einfach so nicht passiert sein können wie in der Geschichte, da dachte ich: Das hat er gemacht. Gleichzeitig dachte ich auch: Das kann er nicht im „Spiegel“ gemacht haben. Das kann nicht sein.

Irgendwann hatten Sie aber den entscheidenden Beweis.
Ja, aber der nächste Gedanke ist: Wie erzählst du jemandem so was? Wie präsentierst du einem Kollegen den Beweis dafür, dass er sich eine Geschichte ausgedacht hat? Darüber habe ich die ganze lange Autofahrt durch Arizona nachgedacht. Sie kennen das „Spiegel“-Gebäude? Man betritt es durch ein Atrium, dreißig Meter hoch. Das Büro unserer Ressortleiter ist im 13. Stock. Da darf das Gespräch mit Relotius auf keinen Fall stattfinden, sonst stürzt er sich da runter. Wir müssen es in der Kantine machen. Solche Gedanken machst du dir dann auch.

Haben Sie seit dem Skandal noch mal mit Relotius gesprochen?
Ich hatte ihn kontaktiert über seinen Anwalt. Ja, was wollen Sie denn überhaupt wissen, sagt der? Ich sage: Vieles.

Was haben Sie für Fragen an ihn?
Jeder hat Fragen an Claas Relotius. Ich glaube, die kann man subsumieren unter der einen Frage: Warum?

Meinen Sie, dass Sie irgendwann mal zusammensitzen können und über alles reden?
Ich weiß es nicht. Das ist mir so fremd alles, die Heftigkeit der Lügen. Ich verstünde , wenn er hier mal was weggelassen, da mal was geschönt hätte, weil die Geschichte sonst halt nicht ganz so rund gelaufen wäre. Aber wie weit weg muss man sein, um seine komplette Existenz auf Lügen aufzubauen. Das ging ja schon bei seiner Einstellung beim „Spiegel“ los.

Moreno: „Er versicherte in dem Video, dass Relotius nie da war“

Sie meinen, dass er das erste Angebot ablehnte mit der Begründung, er müsse seine krebskranke Schwester pflegen.
Ja, aber er hat überhaupt keine Schwester.

Ihr Buch über den Fall liest sich wie ein Krimi: Ein kleiner Reporter bringt gegen alle Widerstände und unter Einsatz seiner beruflichen Existenz, den Schurken zur Strecke. Wenn Sie entschuldigen – das hätte man sich nicht besser ausdenken können.
Das hat mein Freund auch gesagt, der Fotograf Mirco Taliercio, der mit mir in den USA war, um Relotius hintererzurecherchieren: Der Sohn eines andalusischen Bauers und der Sohn eines Neapolitaners überführen einen hanseatischen Aufschneider. Guter Plot.

Die Plotmäßigkeit der Geschichte ist tatsächlich erstaunlich, besonders vor dem Showdown. Sie sitzen in den USA und erhalten den entscheidenden Beweis, zeitgleich erhält Claas Relotius in Deutschland den Reporterpreis …
Ja, das ist absurd, sogar von der Uhrzeit verlaufen die Dinge gegen Ende hin nahezu synchron. Wobei man sagen muss, dass sich dieser Thrill erst jetzt über die Geschichte legt, wo man weiß, wie sie ausgeht. Denn dieser Beweis war ja immer noch nicht das Ende: ein Video, in dem ein Mann namens Maloof, Chef jener Bürgerwehr, die Relotius angeblich begleitet hat …

… der ominöse „Jaeger“ aus der Geschichte, die dann unter dem Titel „Jaegers Grenze“ im Spiegel erschien.
Aber er hieß nicht Jaeger, sondern Maloof, und er versicherte in dem Video, dass Relotius nie da war, nichts von dem, was in der Geschichte stand, hatte je stattgefunden. Aber wie gesagt, auch dieses Video war noch nicht das Ende. Stattdessen hieß es, ich hätte den Mann womöglich geschmiert.

Moreno: „Relotius war zurückhaltend, interessiert, hat vor allen Dingen zugehört“

Es wundert einen, warum sich Relotius darauf eingelassen hat, mit Ihnen zu arbeiten. Sie würden als Co-Autor doch selbstverständlich Fragen an seinen Part haben …
Ich weiß es nicht. Ich frage mich, hätte er das auch so gemacht, wenn der Co-Autor eine Lichtgestalt wie Alexander Osang gewesen wäre? Möglicherweise ja. Er war ja sehr selbstsicher. Es gab zuvor schon einen Fall. Da hatte er eine Geschichte geschrieben über eine Frau, die durch die USA reist und Hinrichtungen beobachtet, um über den ungesühnten Mord an ihrem Mann und ihrem Sohn hinwegzukommen. Filmisch gesehen ein guter Plot, aber natürlich komplett ausgedacht. Da bekam er einen Leserbrief von einer Frau, die die Todesstrafe in den USA zu ihrem Lebensthema gemacht hat, eine absolute Expertin, die vieles an der Geschichte für unplausibel hielt. Für die hatte er eine so überzeugende Argumentationskette parat, dass sie keine Fragen mehr hatte.

Er galt ja als sehr charmant, aufmerksam, bescheiden.
Ja, das haben alle gesagt. Er war zurückhaltend, interessiert, hat vor allen Dingen zugehört, und erst am Ende hat er was gesagt, das war immer nett und hat meist das bestätigt, was der andere zuvor gesagt hatte. Das war natürlich eine Rolle, und ich bin erst später darauf gekommen, dass das das klassische Hochstaplerverhalten ist, das sich letztlich ja auch in seinen Texten spiegelt.

Den Leuten sagen, was sie hören wollen?
Im Schweizer Magazin Reportagen, interessanterweise das Magazin, in dem Claas Relotius seine Karriere startete, schrieb der Schweizer Schriftsteller Linus Reichlin mal einen Essay mit dem Titel „Anleitung für Fälscher“. Da heißt es sinngemäß: Du musst fragen, was die Leute wollen, worauf sich ihre Sehnsucht richtet. Du musst für sie ein Bild malen, auf das sie lange gewartet haben. So sehr haben sie es sich gewünscht, dass sie es, wenn der Wunsch wahr geworden ist, gegen jeden Zweifel verteidigen werden. Sie wollen, dass es echt ist. So hat Relotius gearbeitet.

Juan Moreno.
Juan Moreno. © Mirco Taliercio

Welche Sehnsüchte befriedigte Relotius mit seinen Geschichten?
Dass die Welt doch nicht so kompliziert ist wie sie ist. Dass auch die großen Zusammenhänge in griffigen, anrührenden Geschichten erklärt werden können. Der Syrienkrieg? Da war ein kleiner Junge, der hat ein Graffito gemalt, das führte zu einem Aufstand, und der Aufstand mündete in einen Bürgerkrieg. Sie kennen die Geschichte. Relotius hat dafür den Reporterpreis bekommen. Der Rassismus in den USA? Da ist dieser Mann, ein Schreiner aus Kalifornien, der leider den Fehler begeht, drei Kolumbianer in seiner Schreinerei anzustellen, denn sie verkaufen der Tochter Drogen, und jetzt ist sie ein Wrack. Deshalb hasst er Hispanics, patrouilliert an der mexikanischen Grenze und schießt auf alles, was sich bewegt. Auch die Geschichte kennen Sie. „Jaegers Grenze“. Beide sind frei erfunden.

Moreno: „Bei Relotius wurde es nie grau“

Sie lasen sich gut.
Klar lasen sie sich gut. Die Kausalität ist komplett da. Wenn der Typ, also Jaeger, einfach so rumballern würde, dann würde es unheimlich werden, bedrohlich. Dann weißt du nicht mehr, warum ist der böse. Dann wird es kompliziert, dann wird es grau. Bei Relotius wurde es nie grau. Das las sich gut und hatte was Beruhigendes. Der Subtext seiner Geschichten lautete immer: Lieber Spiegelleser: Heimlich weißt du, wie die Welt ist, und wenn ich dich gewinnen will, dann bestätige ich dir das gern.

Für die AfD war der Fall ein gefundenes Fressen: „Lügenpresse“ war gerade zum Unwort des Jahres gekürt worden, als der Skandal aufflog.
Ja, damit konnte man natürlich wunderbar in Talkshows gehen: Hier ist der Beleg dafür, wie eine linksverblendete, ideologische Medienlandschaft die Leute an der Nase herumführt. Aber der Vorwurf ist falsch. Man muss sich nur anschauen, was und wo Relotius noch so geschrieben hat: auch für „Cicero“, „Die Weltwoche“ in der Schweiz, konservative Blätter. Denen servierte er dann zum Beispiel eine Geschichte aus Albanien über Blutrache und Stammesfehden. Auch die Geschichte war ein Märchen, aber genau das Märchen, dass die Leser dieser Blätter hören wollen. Relotius hatte keine politische Agenda. Seine Agenda war er selbst. 

„Spiegel“-Redaktionskonferenz im Gründungsjahr 1947: In der Mitte sitzt Herausgeber Rudolf Augstein (2.v.r.).
„Spiegel“-Redaktionskonferenz im Gründungsjahr 1947: In der Mitte sitzt Herausgeber Rudolf Augstein (2.v.r.). © epd

Gerade das wird jetzt von den Verlagen gefordert, wo der Wert einer Geschichte an Klickzahlen bemessen wird: erspüren, was der Leser will, ihn nicht irritieren, komplexe Dinge emotional am Menschen erzählen.
Aber es gibt bei allem eine Grenze. Und die eine Grenze, die nie zur Debatte steht, ist die Grenze der Wahrheit. Ich bin ein großer Verteidiger der Reportage, weil sie dir die Konflikte dieser Welt näher bringen kann als alles andere. Und natürlich versuchst du immer, diese Konflikte aufzudröseln und am besten anhand einer Person, einer Begebenheit zu erklären. Manchmal stößt du auf so eine Begebenheit, das sind die seltenen Siege. Claas Relotius lieferte diese Begebenheiten in einer Dichte, dass es dir die Hosen ausgezogen hat.

Wissen Sie, wie es ihm geht?
Er hat Kontakt zu einigen Kollegen, ja.

Und?
Ein Kollege sprach mit ihm, da war er in einer Klinik in Süddeutschland. Behauptete er zumindest. Und dass er auf dem Weg der Besserung sei, woran ich allerdings so meine Zweifel habe.

Warum?
Anderntags sprach diesen Kollegen eine „Spiegel“-Sekretärin an: Weißt du, wen ich gerade gesehen habe? Claas Relotius. Er radelte durch Hamburg.

Interview: Christian Seidl

Zur Person

Juan Moreno wurde 1972 in Huérca-Overa in Spanien geboren. Seine Eltern waren andalusische Bauern, die in den 70er-Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Moreno studierte Volkswirtschaft und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Seit 2007 ist er Reporter beim „Spiegel“. In seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ Rowohlt Berlin, 288 S., 18 Euro), das soeben erschienen ist, schildert er, wie er 2018 den „ Spiegel“-Kollegen und Fälscher Claas Relotius fast im Alleingang und unter Einsatz seiner eigenen beruflichen Existenz überführte.

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