1. Startseite
  2. Kultur

„Jede Alternative zu Putin schlimmer“

Erstellt:

Von: Michael Hesse

Kommentare

Der Soziologe Richard Sennett spricht über einen grundlegenden Wandel für die Menschen in Europa angesichts der bleibenden Gefahr aus dem Osten.

Professor Sennett, wenn Sie sich an den Kriegsausbruch vor einem Jahr erinnern, welche Gedanken hatten Sie da?

Es hat mich sehr getroffen, als Putin den Befehl zur Invasion in die Ukraine gab. Ich glaubte, dass er mit der Krim 2014 schon genug haben würde, ich irrte mich. Wir hätten schon Putins Vorgehen in Syrien viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, wo es sich im Wesentlichen um einen Krieg gegen die Bevölkerung gehandelt hat. Er ging das alles in einem klassisch machiavellistischen Sinne an: Du überlebst als Herrscher mit einem Krieg. Das ist die zentrale Botschaft von Machiavelli in seinem Discoursi, und das trifft ganz gewiss auf Putin zu.

Einige sagen, dass Putin ein rationaler Politiker sei.

Es kann rational sein, zu töten. Es kann sehr rational sein, Leute zu Dingen zu bringen, die man selbst will. Ich bin in Chicago aufgewachsen, es gibt diese großartigen Bilder der Gangster mit Maschinenpistole. Und es gibt überhaupt keinen Ausdruck auf dem Gesicht des Gangsters. Das hat für mich eine große Ähnlichkeit mit Putin. Ich fühle, dass wir uns in Gefahr befinden gegenüber jemanden wie ihm.

Welche ist heute Ihre größte Sorge?

Ich bin 1943 im Krieg geboren worden, und möglicherweise werde ich im Krieg sterben. Es fällt immer schwer, über eine Gefahr nachzudenken, was sie bedeutet und wie man auf sie reagiert. Meines Erachtens gibt es sowohl historisch als auch aus heutiger Sicht einen Unterschied in Bezug zwischen einer als konstant empfundenen und einer episodisch auftretenden Gefahr. Die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte wurde Gefahr als konstant empfunden, Frieden war anormal, während sich die Dinge für uns Heutige umgekehrt haben, dass Gefahr nur eine Episode ist, ein Ausbruch von etwas, eine Art Störung. Und ich denke, dass dies die falsche Art ist, über Gefahr nachzudenken, insbesondere im Fall von Russland. Denn Russland ist jetzt eine ständige Gefahr für uns und keine Episode mehr, nichts, das man durch Beschwichtigung oder durch Missionsgeschäfte in den Griff bekommen kann. Unter diesem Regime ist die Gefahr eine Konstante für Europa. Einige Länder verstehen das sehr gut, andere nicht so gut, würde ich sagen. Und Deutschland in dem Fall nicht so gut.

Würde ein Regimewechsel in Moskau diese Gefahr wieder bannen?

Das glaube ich nicht, denn die einzige Möglichkeit, einen Regimewechsel in Russland herbeizuführen, hätte etwas Extremeres zur Folge: Aus jeder Meinungsumfrage, die wir haben, wissen wir, dass jede Alternative zu Putin schlimmer als er sein würde. Ich sage Ihnen das als jemand mit einer russischen Familie im Hintergrund. Russland kennt nichts anderes als kurze Perioden der Freiheit, sie ist ein absolut fremdes Konzept in seiner Kultur. Es ist sehr schwierig, in einem Land, das nur Autokratien kennt, über einen Regimewechsel nachzudenken, der die Dinge einfacher machen würde.

Februar 2023: Ein russischer Angriff treibt Menschen in Kiew in eine Metro-Station. dimitar dilkoff/Afp
Februar 2023: Ein russischer Angriff treibt Menschen in Kiew in eine Metro-Station. © Dimitar Dilkoff/Afp

FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:

Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.

Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.

Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.

Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.

Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.

In unseren Apps erhalten Sie die komplette Ausgabe auch im Einzelkauf.

Soziologe Sennett zum Ukraine-Krieg: „Putin wird das Sowjetimperium wiederherstellen“

Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass Russland ein faschistischer Staat mit einer faschistischen Gesellschaft ist?

Ich mag dieses Wort nicht.

Der Historiker Timothy Snyder ist der Meinung, Russland sei faschistisch.

Ja, aber ich mag es nicht. Russland ist, was es ist. Es ist ein Zustand ohne Freiheit und mit einem hohen Maß an geistiger Kontrolle. Man könnte sagen, dass die katholische Kirche des 16. Jahrhunderts faschistisch war, wenn man dieses Wort als Synonym verwendet. Vielleicht ist es einfach eine Wortklauberei. Russland ist ein Land, das auf Unterdrückung ausgerichtet ist. Die Fantasie, die einige Leute in der SPD haben, dass Russland irgendwie fortschrittlicher werden könnte, ist unrealistisch. Wichtiger ist mir das Folgende: Eine ständige Gefahr ist immer auch reflexiv. Eine ständige Gefahr ist deformierend für Menschen, die in ihr leben. Man wird erst wieder erfahren, was Angst ist und wie man mit ihr lebt. Das haben die Finnen, Norweger, Schweden und die baltischen Staaten allesamt verstanden, dass man nur vernünftig mit ihr umgehen kann, wenn wir der Gefahr als Europa begegnen und nicht als einzelner Nationalstaat.

Glauben Sie denn, dass der Einfluss der dauerhaften Gefahr durch Russland Europa verändern wird?

Ja. Wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat, wird er tun, was er gesagt hat, er wird das Sowjetimperium wiederherstellen. Es wird nur die Frage sein, wer der Nächste ist und wann, nicht ob. Es ist nicht wie bei einem, der ein Land frisst und sich dann satt fühlt. Das ist der falsche Weg, darüber zu denken. Deshalb ist Appeasement in diesem Fall einfach nicht angebracht.

Was sollte Europa tun? Mehr Waffen an die Ukraine liefern? Alles könnte sich ja schnell ändern, wenn etwa Trump schon 2024 wieder US-Präsident sein würde.

Wir wissen, dass Trump in seiner ersten Präsidentschaftskampagne Geld angenommen hat, und wir wissen jetzt, dass seine Unternehmen in hohem Maße auf russisches Geld angewiesen sind. Ich denke, wenn Trump wiedergewählt wird, wird er die freie Welt den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Umso mehr Grund haben wir, eine wirklich kollektive Sicherheit anzustreben. Das ist keine Frage der Paranoia. Es ist eine Frage der rationalen Einschätzung, in welcher Welt man sich befindet, in der die Vorstellung, dass Frieden normal ist, nicht mehr zutrifft. Je nachdem, wie man einen Rahmen zieht, sehen die Dinge ganz, ganz anders aus. Ich habe dazu eine Frage an Sie. Meine ehemaligen Kollegen sind sehr verwundert über den deutschen Kanzler Scholz. Ich meine, das ist ein diplomatisches Desaster, was da mit den Panzerlieferungen anfangs passiert ist. Sehen Sie irgendeinen Grund, warum er das tut? Der Gedanke, sich hinter den USA zu verstecken, ist jedenfalls nicht gut, wenn Trump in 18 Monaten wieder Präsident ist.

Manche glauben, es ist auch ein Problem seiner Kommunikation. Wie ist Ihr Eindruck von Deutschland? Scholz sprach vor einem Jahr von der „Zeitenwende“.

(Sennett lacht laut und lange) Ja, Erinnerung kann eine schöne Sache sein. Ihre Außenministerin Baerbock scheint die Gefahr besser einzuschätzen als er. Ich will Ihnen eine persönliche Geschichte zum Thema Gefahr erzählen. Meine Familie ist aus Russland geflohen, sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts vertrieben, sie sind nach Russland gegangen und dann wieder geflohen, sie waren eher Trotzkisten als Stalinisten. Sie lebten in St. Petersburg und flohen in den 1920er Jahren. Mein Urgroßvater hatte immer einen gepackten Koffer in seiner Wohnung stehen für den Fall, dass er wieder wegmüsste. So sieht es aus, mit einer bleibende Gefahr zu leben. Die dauerhafte Gefahr ist mir tief bewusst durch die Geschichte meiner eigenen Familie. Es macht mich traurig, dass ich wahrscheinlich sterben werde, während Europa immer noch im Krieg ist.

Richard Sennett.
Richard Sennett. © imago images/POP-EYE

Zur Person

Richard Sennett, geboren 1943 in Chicago, lehrt Soziologie und Geschichte an der New York University und der London School of Economics and Political Science. Sennett wurde als Theoretiker und Historiker des städtischen Lebens bekannt und richtete seine Forschungsarbeit neben Städten auf Arbeit und die Kultursoziologie aus.

Er gilt als „Seismograf des Wandels“. Er ist verheiratet mit der Stadtsoziologin Saskia Sassen. Unter anderem wurde Sennett mit dem Hegel–Preis und dem Spinoza-Preis ausgezeichnet; er ist Ehrendoktor der University of Cambridge.

Soziologe Sennett zum Ukraine-Krieg: „Demokratie wird etwas für kleine Staaten sein“

Was würden Sie von Scholz erwarten?

Er hat viel versprochen, aber Scholz hat sich nicht wie ein Führer verhalten. Der Führer Europas ist Selenskyj. Ich würde mir wünschen, dass Scholz ein besserer Europäer wird. Jeder Grund, nicht zu handeln, erhöht die eigene Verletzbarkeit. Die deutsche Außenministerin Baerbock hat das genau verstanden. Ich bin beeindruckt von ihr. Aber wenn die Ukraine gegen Russland verliert, was passiert dann? Es wird einen unglaublichen Kampf um die Frage geben, wer schuldig ist.

Wenn Sie in die Geschichte blicken, in welche Epoche würden wir eintreten?

Das 19. Jahrhundert war relativ friedlich. Einmal abgesehen von Russland, dem Krimkrieg, dem Krieg gegen Japan. Wenn Sie mich philosophisch fragen würden, wäre meine Antwort, dass ich Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden“ zum Weltfrieden neu gelesen habe. Es ist sehr bewegend und so klug geschrieben. Aber es ist wirklich eine Frage des aufklärerischen Denkens, wie wir den Frieden unter den Bedingungen des Krieges denken wollen, das ist nicht einfach eine Übung der Vernunft, und das hat Kant erkannt. Ich lese viele Dinge wieder, die ich mit 20 gelesen habe, sie sehen heute ganz anders aus.

Wie schätzen Sie die Überlebenschance von Demokratien gegenüber autoritären Systemen wie Russland oder China ein?

Demokratie wird etwas für kleine Staaten sein, nicht für China oder Russland oder sogar die USA, für Holland, die nordeuropäischen Staaten, vielleicht Deutschland. Aber man wird sehen, wie geschwächt Deutschland sein wird, um nicht in die autoritäre Falle zu tappen.

Sie sind ja nicht gerade optimistisch.

Sie wissen doch, dass Optimismus eine Frage des Willens ist. Ich kann Ihnen das sagen, denn ich habe einige Enttäuschungen erlebt. Aber man sollte optimistisch sein, sonst hat man ziemlich schlechte Tage, besonders im hohen Alter. Es ist nicht gut, jeden Morgen aufzuwachen und sich zu sagen, heute erwartet mich der nächste Horrortag. Besser ist es, den Willen zum Optimismus zu haben, auch wenn er immer etwas zutiefst Irrationales bleibt.

(Interview: Michael Hesse)

Auch interessant

Kommentare