Privatsender am Abgrund

Die privaten Fernsehsender verlieren Profil und Zuschauer. Verzweifelt suchen sie nach neuen Ideen - und schnappen nach jedem Strohhalm. Der jüngste Rettungsanker ist "The Voice Kids" mit ekstatischen Juroren.
Von Peer Schader
Als Sat.1 vor zwei Wochen „The Voice Kids“ startete, einen Ableger seiner erfolgreichen Castingshow für Erwachsene, musste schon nach den ersten Minuten befürchtet werden, die Jury könne jeden Moment vor Begeisterung platzen. Während des Auftritts einer Zwölfjährigen hielt es Lena Meyer-Landrut nicht mehr auf ihrem Drehsessel. Die Eurovisionsgewinnerin wedelte mit den Armen wie ein beschwipster Kolibri und brüllte: „Oh! Mein! Gott!“ Nachher lobte sie die Kandidatin: „Du hast hammermäßig gesungen! Wir flippen aus! Krass! Ich bin total geflasht!“ Ihr Juryrivale Tim Bendzko ging vor einer Neunjährigen in die Knie und stammelte in einer Tour: „Unfassbar!“
Mehr als vier Millionen Zuschauer waren vor dem Fernseher dabei, wie sich der Sender in Selbstekstase versetze. Leider lässt sich diese Begeisterung nicht aufs restliche Programm übertragen. Mehrere Monate nacheinander erzielte Sat.1 in der Zielgruppe der 14- bis 49-jährigen Zuschauer, die den Privatsendern bisher als Vergleichsgröße diente, unter zehn Prozent Marktanteil und ist hinter den Schwestersender ProSieben zurückgefallen.
Programme wie Eintagsfliegen
Das liegt auch daran, dass am Sendersitz in München zuletzt wenig unternommen wurde, um das frühere Image vom Familiensender zu fördern. Stattdessen versucht Sat.1 kontinuierlich, die Konkurrenz zu kopieren. Anfang des Jahres sollte die nach dem Prinzip von „Berlin Tag & Nacht“ gestaltete Scripted Reality „Patchwork Family“ den Vorabend retten. Im März war wegen enttäuschender Zuschauerzahlen schon wieder Schluss. Im Nachmittagsprogramm haben sich die alten Gerichtsshows überlebt, neue geskriptete Dokusoaps sterben wie Eintagsfliegen.
Am Abend laufen in der Regel eingekaufte Spielfilme oder amerikanische Serien. TV-Movies wie die Politsatire „Der Minister“ sorgen kurzfristig für Aufmerksamkeit, sind aber die Ausnahme.
Für die derzeitigen Eigentümer von ProSiebenSat.1, die Finanzinvestoren KKR und Permira, geht die Rechnung trotzdem auf. Die deutschen Sender fuhren im vergangenen Geschäftsjahr ein bereinigtes Betriebsergebnis von 660 Millionen Euro ein. Weil Kanäle im Ausland verkauft wurden, konnte der Konzern zuletzt 1,2 Milliarden Euro Dividende ausschütten.
Dafür mag die Strategie, nur das Nötigste ins Programm zu investieren, richtig sein. Für den langfristigen Erfolg bei den Zuschauern ist sie fatal. Das hat auch der seit Oktober amtierende Sat.1-Geschäftsführer Nicolas Paalzow erkannt. Er ist der sechste in nur fünf Jahren, soll dem Sender wieder ein deutlicheres Profi verpassen und befindet sich gerade auf Einkaufstour. Für die kommenden Monate ist ein Kochcasting unter dem Arbeitstitel „The Taste“ angekündigt, das nach dem „Voice“-Prinzip funktioniert. Schon im Juni startet „Got to Dance“, bei dem gemeinsam mit ProSieben „der beste Dance-Act Deutschlands“ gesucht wird. Moderieren darf Johanna Klum. Komikerin Cindy aus Marzahn wechselt zum Münchner Sender. Und in der vergangenen Woche wurde bekannt, dass „Tagesschau“-Sprecher Marc Bator schon ab Mai neuer Anchorman der Sat.1-Nachrichten ist und zusätzlich Unterhaltungsshows moderiert.
Eigene Ideen, die nicht aus dem Ausland stammen, den Sender aber lange Jahre geprägt haben („Schillerstraße“, „Genial daneben“), sind rar. Das hat Sat.1 zwar mit dem ewigen Rivalen RTL gemeinsam – aber genau diese Strategie wird dem Kölner Konkurrenten gerade zum Verhängnis.
Ein Hit war bisher nicht dabei
Langjährige Erfolgsshows wie „Das Supertalent“ und „Deutschland sucht den Superstar“ haben ihren Zenit offensichtlich überschritten und werden nicht mehr von so vielen Zuschauern gesehen wie in den Vorjahren. Im „Spiegel“ kündigte RTL-Unterhaltungschef Tom Sänger deshalb deutliche Änderungen für die nächsten Staffeln an. Auch Dokusoaps wie „Rach der Restauranttester“, „Raus aus den Schulden“ und „Schwiegertochter gesucht“ sind betroffen.
Schon seit Monaten bemüht sich RTL, Neues im Programm auszuprobieren. Ein Hit war bisher nicht dabei. Oliver Pochers „Schlag den Raab“-Variante „Alle auf den Kleinen“ funktionierte immerhin so gut, dass sie im Juli fortgesetzt wird. Von den übrigen Neustarts mit beliebigen Titeln wie „Shooting Stars“, „Cash Crash“ und „Unschlagbar“ gehen nach derzeitigem Stand zwei weiter. Dazu kriegt die Neuauflage der „Traumhochzeit“ Anfang Mai eine neue Chance.
Ausgerechnet mit Reality-Programmen, die lange zu den verlässlichsten Quotenbringern zählten, tun sich die Kölner noch schwerer. Ende März floppten „Entführt! Gib mir mein Kind zurück“ und „Die Zuschauer“. Womöglich haben die Programmverantwortlichen in den vergangenen Jahren, als RTL ohne Mühe Rekordmarktanteile ablieferte, ohne dass erkennbar in Innovationen investiert wurde, das Gespür dafür verloren, was das Publikum interessiert.
Viele neue Sendungen sind nach exakt demselben Muster gestrickt wie ihre Vorgänger. Nur Leute, die am Fernsehsessel festgewachsen sind, können „Entführt!“ noch von „Vermisst“ unterscheiden. Die Erzählweise von „Ich kämpfe um Ihr Recht!“ und „Ich kämpfe gegen Ihre Kilos“ variiert nur minimal. Und wer braucht schon eine Dokusoap namens „Nachbarschaftsstreit“, wenn sowieso schon in jeder anderen Reality die ganze Zeit gestritten wird?
Gut möglich, dass die Zuschauer gar nicht die einzelnen Sendungen an sich satt haben. Sondern deren immer gleiche Machart.
Die Stalker kommen
Dass sonst permanent darauf geschielt wird, welche Programme auf dem internationalen Markt bereits erfolgreich sind, hilft auch nicht weiter. Sat.1 macht’s genauso – und kommt sich deshalb mit RTL jetzt immer häufiger in die Quere. Nachdem Sat.1 die neue Dokureihe „Stalkers“ angekündigt hatte, erklärte RTL kürzlich, eine ganz ähnliche Sendung unter dem Titel „Verfolgt“ in petto zu haben – und früher damit zu starten. Jetzt zieht Sat.1 seine „Stalkers“ vor und sendet einen Tag vor RTL. Schöner lässt sich die Ratlosigkeit auf beiden Seiten kaum illustrieren.
Dem RTL-Eigner Bertelsmann sind solche Programmfragen natürlich schnuppe. Die Sendergruppe ist für den Medienkonzern vor allem ein wunderbarer Selbstbedienungsladen. Vor dem von Bertelsmann angekündigten Verkauf eines Teils seiner RTL-Group-Aktien im Juni musste die Sendergruppe gerade schon eine Dividende von 1,6 Milliarden Euro an die Eigentümer ausschütten – und sich dafür von Bertelsmann 500 Millionen Euro leihen, die verzinst zurückzuzahlen sind. Wer solche Medienkonzerne als Besitzer hat, braucht keine Heuschrecken-Investoren mehr zu fürchten.
Oder um es mit den Worten von Lena Meyer-Landrut zu sagen: „Oh! Mein! Gott!“