Pass auf dich auf

Und welche Serien schaust du so? Das neue Fernsehen verlangt Planung. Der Start unserer Kolumne "Nächste Folge".
Und, welche Serien schaust du so?“ „Ich schau’ nur Arthouse-Kino“, hätte der kulturell bewanderte Schnösel vor einigen Jahren geantwortet, als Fernsehen mit der hundertsten Wiederholung von „Emergency Room“ noch repetitiv und einfallslos daherkam. Seit dem Siegeszug des Qualitätsfernsehens von Übersee aber, dank der Streaming-Dienste auf allen mobilen Endgeräten mitgeführt, ist TV bekanntlich das neue Kino. Die Abfrage des Serien-Portfolios in Form des vermeintlich zwanglosen Gesprächseinstiegs „Welche Serien schaust du so?“ dient nicht nur als Eisbrecher, sondern taugt auch zur ersten Charakterisierung des Gesprächspartners.
Klar, „Game of Thrones“ mag eh jeder (mehr dazu demnächst an dieser Stelle), doch abseits des Fantasy-Epos gilt es, seine Zeit klug einzuteilen, um wirklich bei allem mitreden zu können. Man unterscheide daher zwischen dialoglastigen Serien, die sich als Hörspiele beim Gemüseschnippeln eignen, und bildgewaltigen Gewaltfantasien wie „The Walking Dead“, die weniger durch ihre Dialoge brillieren (die inflationär ausgesprochene Warnung „Be safe – Pass auf dich auf“ gilt als sicherer Indikator dafür, dass gleich jemand von den Zombies zerfleischt wird). Beim Pendeln zur Arbeit sind die Öffentlichen für Seriensüchtige ökonomischer als das Auto: Anstatt auf den Verkehr zu achten, lehnen Reisende sich zurück und gönnen sich die neueste Folge, und bei Zugverspätungen kommt eben noch eine halbe dazu. Und wenn sie ihren Ausstieg verpassen, gleich noch eine.
Man kann sich aber auch in – Achtung, jetzt kommt das Unwort – Entschleunigung üben, wie die Damen und Herren an den Universitäten es tun, wenn sie die „Populäre Serialität“ (so der Titel eines einschlägigen Fachbuchs) in allen Einzelheiten analysieren. Zurückspulen, Pause drücken und über das Gesehene nachdenken. All das ist seit dem Umstieg vom festen Programm zum freien Streaming auch im Fernsehen möglich, ganz genauso wie bei den angestaubten DVDs im Keller. Geradezu unabdingbar ist es im Fall der großartigen Polizei- und Drogenserie „The Wire“, deren Start auch schon wieder 15 Jahre her ist, um bei den 60 Episoden mit ungefähr genauso vielen Charakteren und Handlungssträngen nicht den Überblick zu verlieren – vor allem, wenn man sich im Original an den Baltimore-Slang herantraut.
Die wuchernde Komplexität von „The Wire“ verleitete einige Rezensenten sogar dazu, Vergleiche zum französischen Schriftsteller Honoré de Balzac zu ziehen und die Qualitätsserie als Gesellschaftsroman unserer Zeit zu feiern – was natürlich Quatsch ist, aber einiges über den Wandel des Fernsehens und dessen Rezeption aussagt. Das Wohlwollen der Kritiker genießen vorrangig jene Serien, denen die Emanzipation vom eigenen Medium nachgesagt wird. „It’s not TV. It’s HBO“ lautete der Slogan des US-amerikanischen Kabelanbieters, mit dem der Hype um das neue Qualitätsfernsehen rund um die Jahrtausendwende seinen Anfang nahm. Ist ja peinlich, so ganz echt Fernsehen zu schauen, „guilty pleasure“ eben.
Spätestens beim pseudo-spirituellen Finale von „Lost“ zeigte sich aber auch, wie viel Fernsehen im Qualitätsfernsehen steckt, nicht nur wegen der allumfassenden Bacardi-Werbungs-Ästhetik: Von Anfang an hatten die Autoren keinen Plan, wie sie die ganzen „Mindfuck“-Mysterien der Insel zu einem plausiblen Ende zusammenfügen sollen, wie sie später selbst zerknirscht zugaben. Umgekehrt gibt die Offenheit von Serien-Drehbüchern den Autoren die Möglichkeit, bei der laufenden Produktion über einen längeren Zeitraum auf die Vorlieben der Zuschauer zu reagieren (an die Macher von „The Affair“: mehr Helen, bitte!).
Nehmen wir das neue Fernsehen also als das, was es ist: immer wieder auch Mist, punktuell großartig. Genauso wie alle anderen Formen der Unterhaltung.