Der Ossi-Versteher

Intendant Udo Reiter geht nach zwanzig Jahren an der Spitze des MDR in den Ruhestand. Verdientermaßen. Denn dank ihm hat der Sender mittlerweile ein Jahresetat von 650 Millionen Euro, acht Radioprogramme, 7000 Mitarbeiter. Und noch vieles mehr.
Von Ernst Elitz
Was für ein schöner Job! Ein Jahresetat von 650 Millionen Euro, acht Radioprogramme, 7000 Mitarbeiter. Und dazu noch ein Fernsehprogramm, das alle Zuschauerrekorde sprengt: Mit knapp neun Prozent Marktanteil an der Spitze der Dritten. Was für ein Job!
„Was für ein schönes Leben“, schwärmt Udo Reiter. „Ich war der Urknall!“ Als der Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks 1991 nach Leipzig kam, war dort nur das Nichts und der politische Wille, eine ARD-Landesrundfunkanstalt für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen aufzubauen. Reiter kam mit der Grunderfahrung des Bayerischen Rundfunks, dass ein Programm nur erfolgreich sein kann, wenn es den Bürgern Heimat bietet und nicht „alles und jeden nur schlecht macht“ – vor allem nicht die Landesregierung. Das passte gut in die Vorstellungswelt der gewendeten Blockparteien, die in Dresden, Erfurt und Magdeburg regierten und deren Mitglieder noch vor der SED gedienert hatten. So schnell ließ sich die DDR nicht aus den Kleidern schütteln. Aber wie eng das Netz der Stasi in den Medien gewirkt war, konnte auch Reiter nicht ahnen. Der MDR und seine Stasifälle – das wurde zum Fortsetzungsroman.
Karola Wille gewählt
Udo Reiter, erster und bisher einziger Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks geht an diesem letzten Oktobertag des Jahres 2011 in den Ruhestand. Von Dienstag an wird seine bisherige Stellvertreterin Karola Wille, aufgewachsen in der DDR, den Sender leiten. Vor wenigen tagen erst wurde sie vom Rundfunkrat gewählt.
Udo Reiter war ein Macher. Er hatte in seinen Jahren beim BR Akzente gesetzt, die bis heute wirken. Er erkannte Thomas Gottschalks „ganz außergewöhnliche Radiobegabung“ (Reiter) und holte den Journalistenschüler aus den Verkehrsnachrichten ins Jugendprogramm, wo er mit Günther Jauch die legendäre Sendung „Pop nach acht“ moderierte. Reiter brach mit der Tradition einer gefälligen Mischung von Wort und Musik und setzte auf ein politisches Wortprogramm: „B5aktuell“. Heute ist das von Reiter erfundene Nachrichtenradio aus den Angeboten der Landesrundfunkanstalten nicht mehr wegzudenken. Reiter war ein Mann der Innovation, der sich in die Stimmung des Publikums einfühlen und Trends früh erspüren konnte, und er war – so Friedrich Nowottny, damals Intendant des WDR – „schlitzohrig, unerschrocken und durchsetzungsfähig“ genug, um aus einer der Wärmestuben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Wilden Osten aufzubrechen.
MDR und der Ruf als Affärensender
Ein Landstrich ohne Mobiltelefone, in dem die Bewohner nach einer im Westen vielbelachten Pointe der Witz-Zeitschrift Titanic eine Gurke nicht von einer Banane unterscheiden konnten – das war nichts für schreckhafte Zeitgenossen. Reiter hatte seinem Leben ein anderes Maß abgetrotzt. Mit zweiundzwanzig Jahren querschnittsgelähmt hatte er angesichts einer von den Ärzten bescheinigten Lebenserwartung von gerade mal sieben Jahren die Smith&Wesson schon durchgeladen, um seiner quälenden Existenz ein Ende zu setzen – und sich dann im letzten Moment gegen die Selbstaufgabe entschieden. Wer das für sich erkämpft hat, der sagt zum Rest der Probleme, die die Welt so zu bieten hat: Na und?
Na und! Als die ARD dem neuen Sender eine Anschubfinanzierung von 500 Millionen D-Mark überwies, um in Studios und technische Infrastrukturen zu investieren, ließen Reiter und sein Verwaltungsdirektor das Geld nicht etwa bis zum Eingang der Rechnungen auf dem Bankkonto schmoren, sondern verdoppelten den Betrag durch geschickte Währungsspekulationen. Nur eine Anleihe ging schief, Peanuts von 2,6 Millionen Mark. Der im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ungewohnte, aber erfolgreiche Versuch, das Geld mal auf andere Weise als durch eine Gebührenerhöhung zu vermehren, hätte Reiter beinahe das Amt gekostet. Seitdem hatte der MDR den Ruf eines Affärensenders.
Das blieb haften. Da mochte beim Hessischen Rundfunk der Sportchef auf eigene Rechnung wirtschaften, da konnte sich die Fernsehspielchefin des NDR selbst verfasste Drehbücher honorieren, da ging der Geschäftsführer der Produktionsfirma des Saarländischen Rundfunks in Untersuchungshaft – gemessen an den anderen bot der MDR die höchste Trefferquote bei Personal- und Finanzaffären. Reiter hatte versäumt, nach den wilden Anfangsjahren rechtzeitig auf Controller-Modus umzuschalten. Er opferte jeweils seine Direktoren auf dem Altar der öffentlichen Empörung. Erst nach Kika- und Foth-Skandal gab er selbst die Macht aus der Hand. Aber auch dieser „Shitstorm“ wird sein Lebenswerk nicht vernichten. Reiter beherrscht den Jargon der Twittergeneration.
Grimme- und Fernsehpreis
Aber da sind noch zwei Ehrentitel, deren Verbleib nach seinem Ausscheiden zu klären ist. Die mit Volkstümelei und „Kessel Buntes“-Vergnüglichkeit hadernden Mahnwachen des guten Geschmacks haben ihm den Titel „Direktor einer Schunkelanstalt“ verliehen. Das hängt ihm wie eine Klette an – trotz Grimme-Ehrung, „Polizeiruf“ und Deutscher Fernseh-Preis für die den DDR-Alltag spannungsreich-einfühlsam schildernde Serie „Weissensee“. Die Medienkritik kann nachtragend sein. Wenn an einem Sonntag um 20.15 Uhr beim NDR wieder mal die Heide blüht, gleichzeitig beim WDR die Münsterländer Holzschuhe klappern, in Bayern die Kipfenberger Tanzlmusi aufspielt, bei den Hessen die Egerländer und anderswo die Kastelruther Spatzen es krachen lassen, können die Intendanten der ARD entscheiden, wem künftig dieser Titel gebührt. Ossi-Schunkeln, Wessi-Schunkeln – das nimmt sich nichts.
Die Ehrenurkunde für ein Lebenswerk aber gebührt ihm allein. Bei allen selbst fabrizierten Pannen, einer verminten Vergangenheit, grässlich versiebten und geglückten Experimenten hat Reiter aus dem Nichts einen Sender aufgebaut und die ARD im Osten heimisch gemacht, nicht als Besser-Wessi, sondern als Ossi-Versteher.
Prof. Ernst Elitz war von 1994 bis 2009 Gründungsintendant des Deutschlandradios. Er lehrt an der Freien Universität Berlin Kultur- und Medienmanagement.