- 0 Kommentare
- Weitere
Heiner Goebbels
Zurück in mehrere Richtungen
- vonHans-Jürgen Linkeschließen
Heiner Goebbels’ Hörstück „Gegenwärtig lebe ich allein“. Der Text stammt von Henri Michaux und ist streckenweise zweisprachig.
Wenn man vom Hörspiel eine dem Textverständnis dienende Interpretation oder Inszenierung erwartet, dann ist dies kein Hörspiel; Heiner Goebbels hat für seine radiophonen Arbeiten seit je lieber die offenere Gattungsbezeichnung „Hörstück“ gewählt.
„Gegenwärtig lebe ich allein“ sieht den Komponisten und Theatermacher Heiner Goebbels selbst am Klavier und bei der Herstellung von Klangereignissen, die in einer weitläufigen, gelösten Beziehung zur Semantik des Textes stehen. Der Text stammt von Henri Michaux und ist streckenweise zweisprachig, deutsch und französisch, aber nicht synaptisch montiert. Es gibt keine durchgängige Übersetzung von der einen in die andere Sprache. Die Arbeit mit dem Text ist David Bennent anvertraut, er verrichtet sie ohne interpretierende Satzmelodien und akzentuierende Interpunktionen. Die Text-Verstimmlichung wirkt oft distanziert, nutzt akzentuierende Wiederholungen und räumliche Effekte wie intime Nähe, Flüstern, Rufe aus der Ferne. Klangliche, melodische, rhythmische Qualitäten schieben sich neben die semantische Datenfülle. Zwischen Klavier und Stimme gibt es ein Gleichgewicht und kein illustratives, sondern ein interaktives Verhältnis.
Elektronische Effekte und die Landschaft, in der und durch die der Text sich bewegt, sind vom Klavier aus generiert. Mal liefert es klangmalenden Hintergrund, mal krasse Interpunktionsarbeit des Textes, manchmal illustriert es eine Text-Ebene oder dementiert eine andere. Und manchmal erscheint einfach autonome Musik neben einer autonomen Sprechmelodie und -rhythmik.
Mit Sprache komponieren
Ein Stück weit ist Heiner Goebbels für sein neues Hörstück zu früheren ästhetischen Ausgangsmarken zurückgekehrt. Aber dieses Zurück führt immer in mehrere und oft auch in eine neue Richtung. Er ist wieder improvisierender Bühnenmusiker und gewinnt aus der Improvisation bildhaftes Material. Er ist, wie immer, Komponist und komponiert mit Klang, gesprochener Sprache und ihren Bildvorräten.
Strukturell ist das Hörstück in neun Bilder geteilt, was dem Ganzen eine vielfältige Klarheit gibt – eine Klarheit auch der Infragestellungen. „Gegenwärtig lebe ich allein“: Geht es hier um Einsamkeit und Wege ihrer Verarbeitung oder ist das nur die Ouvertüre? Und das zweite Bild, „Nacht“: kräftezehrende Arbeit an Mauern und übereinander geschichteten Ebenen – geht es um Haltungen einer Rebellion? „Ich reise nicht mehr“: ist das Leitmotiv für Begleitumstände des Älterwerdens oder Anstoß für evasive Fantasietätigkeit?
Von jedem Hör-Bild geht eine neue Intensität aus. Dramaturgie und zeitliche Abfolge sind nicht zwingend. Das strenge, nie wolkig-metaphorische Pathos in Michaux’ Texten ist mit einer fein dosierten Ironie, die aus den Eigenwilligkeiten der Übertragungen sickert, gebrochen, aber nicht destruiert.
Und es ist immer wieder das Klavier, das das Firmament dieses Hörstücks schafft, aus dem heraus und um das herum sich alles gruppiert. Bis am Ende ein von einzelnen tiefen Klaviertönen begleitetes, fast betonungsfreies Textgebilde langsam ins Unendliche ausläuft, wo sich Parallelen treffen: „Eine Linie träumt. Niemals bis dahin hatte man eine Linie träumen lassen.“
„Gegenwärtig lebe ich allein“, Hörstück. David Bennent, Stimme, Heiner Goebbels, Klavier. Ursendung: 7. Januar, SWR 2, 22:03 Uhr.