Zum Tod von Tina Turner: Die Stimme, die Vinyl schmelzen ließ

Zum Tod der großen Sängerin Tina Turner, die aus ihrer höllischen Ehe ausbrach und ein Superstar wurde.
Die Schmerzensfrau des Rock’n’Roll, die wollte sie eigentlich nie sein. Doch das war der Preis, den Tina Turner zahlen musste, dafür, dass sie nach dem späten Aufstieg in Superstar-Sphären ihre Autobiografie „I, Tina“ veröffentlichte. Sie wollte endlich ihre Geschichte erzählen, die Wunden offenlegen, die sie all die Jahre zuvor mühsam überschminkt hatte. Doch als ihre bitteren Lebenserinnerungen bald darauf mit Angela Bassett in der Hauptrolle von Hollywood verfilmt wurden, blieb sie dem Kinosaal fern: „Warum sollte ich mir noch einmal angucken wollen, wie Ike Turner mich verprügelt?“
Am Mittwoch ist Tina Turner im Alter von 83 Jahren nach langer Krankheit in ihrer schweizerischen Wahlheimat Küsnacht gestorben. In ihren letzten Jahren musste sie immer wieder gesundheitliche Rückschläge hinnehmen: 2013, kurz nach der Heirat mit ihrem langjährigen Kölner Lebensgefährten Erwin Bach, erlitt sie einen Schlaganfall, 2016 wurde bei ihr Darmkrebs diagnostiziert, 2017 musste sie sich einer Nierentransplantation unterziehen, das neue Organ spendete ihr Ehemann.
„Es war kein gutes Leben“, resümierte Tina Turner in einer Dokumentation, die anlässlich ihres 80. Geburtstags erschien. Aber damit meinte sie nur die erste Hälfte, bevor sie sich im Alter von 45 Jahren noch einmal neu erfand, als Popsängerin von Weltrang und als glücklicher Mensch.
Trotzdem wurde sie in Interviews vor allem zur ersten, fremdbestimmten Hälfte befragt. Musste wieder und wieder öffentlich Zeugnis ablegen von ihrem Martyrium als Ehefrau, die Pressearbeit fiel für sie mit einer endlosen Abfolge von Re-Traumatisierungen zusammen. Selten jedoch wollten Interviewer über das Augen- und Ohrenfälligste reden: Dass Tina Turner nicht nur eine der großen Stimmen, sondern auch eine der großen Innovatorinnen der populären Musik ist. Gewiss, Ike Turner hatte 1951 mit „Rocket 88“ den vielleicht ersten Rock’n’Roll-Song eingespielt. Aber es war sein junges Protegé und baldiges Opfer, das die Klage des Blues ans Starkstromkabel schloss und zum Urschrei der Rockmusik verstärkte.
Tina Turners Stimme war ein menschlicher Van-de-Graaff-Generator. Wenn sie ihre Stimmbänder erzittern ließ, als wären diese ein unentdecktes Sexualorgan, stellten sich zuverlässig die Haare der elektrisierten Zuhörenden auf. Phil Spector, ein weiterer Täter aus der Musikindustrie, wählte Tina Turner 1966 als Sängerin für sein Meisterwerk in spe „River Deep – Mountain High“ aus und türmte seine „Wall of Sound“ so hoch auf wie nie zuvor. Aber Turners Stimme bringt diese Mauern trotzdem zum Einsturz.
In den 1960ern hätte man ihre Performance wohl kaum als Ausbruchsversuch interpretiert. Und auch Turners frenetischer Go-Go-Tanz – die hoch an den Körper gezogenen Knie, das wie vom Blitz getroffene Stöckeln – wurde eher als Ausdruck animalischer Sexualität gelesen, mit den damit einhergehenden rassistischen Untertönen, denn als Abschütteln der Fesseln, die Frauen im Rock’n’Roll-Geschäft angelegt wurden. Mick Jagger guckte sich Tina Turners Tanzschritte damals genau ab, die Ike & Tina Turner Revue bestritt regelmäßig das Vorprogramm der Rolling Stones. Die berühmten „Jagger Moves“, die schlicht „Turner Moves“ waren, erkannte man dagegen sofort als Ausdruck selbstbestimmter junger Männlichkeit, eine Herausforderung ans Establishment.
Je eindeutiger Tina Turner zum Star der Revue wurde, so scheint es, desto grausamer behandelte sie ihr von Minderwertigkeitskomplexen zerfressener Ehemann, übergoss sie mit heißem Kaffee, schlug sie mit Schuhspannern und Kleiderbügeln, vergewaltigte sie, sperrte sie ein. Sie habe Folter durchgemacht, fasste Tina Turner in der erwähnten Dokumentation knapp zusammen. Und man fragt sich, warum sie nun, mit 80 Jahren, immer noch davon berichten sollte.
Sprechen wir also lieber von ihrem erstaunlichen Comeback, von einer der schönsten Erzählungen der Popgeschichte. Als sie dem Käfig ihrer Ehe auf abenteuerliche Weise entfloh, hatte sie nur 36 Cent in ihrer Tasche. Sie schlug sich mit Konzerten in kleinen Clubs, Cabaret-Shows in Las Vegas und gelegentlichen Fernsehauftritten durch, ein Oldie-Act aus den 1960ern. Aber John Carter, ein A&R-Manager bei Capitol Records, sah mehr in ihr. Und ein Hilfstrupp britischer Musikgrößen schloss sich ihm an, darunter Rod Stewart, Jeff Beck, Mark Knopfler und Martyn Ware von Heaven 17. Sie waren von Turner als junge Burschen verzaubert worden und hatten das nie vergessen. David Bowie drängte unermüdlich Vorstände und Manager seiner Plattenfirma dazu, sich Turners Konzerte anzusehen.
Ende Mai 1984 erschien dann endlich „Private Dancer“, jenes Album, das Tina Turner vom Alt- zum Superstar katapultierte. Ihre Stimme lasse Vinyl schmelzen, schwärmte die „Los Angeles Times“. Ihre Stimme war stark wie eh und je, die Musik nun aber geschmeidiger und radiofreundlicher. „What’s Love Got to Do With It“, die erste Single-Auskopplung, war ursprünglich für Cliff Richard und die Eurovisions-Truppe Bucks Fizz komponiert worden, aber erst der Kontrast zwischen dem federleichten Reggae des Songs und Turners erdiger Performance machen das Stück zum Hit. Es ist ihre erste und einzige Nummer Eins in der US-Hitparade, damals, 1984, war sie 44 Jahre alt und damit die älteste weibliche Solokünstlerin, die jemals die Spitze der Billboard-Charts erreicht hatte.
Jetzt trat Turner vor 180 000 Menschen auf, so geschehen im Januar 1988 in Rio de Janeiro. Zwei Jahre zuvor hatte sich auch ihr privates Glück gewandelt, als Erwin Bach sie im Auftrag ihres Kölner Labels EMI vom Düsseldorfer Flughafen abholte. Nichts schien für die Verbindung zwischen dem amerikanischen Superstar und dem bescheidenen, 16 Jahre jüngeren Mann aus dem Hunsrück zu sprechen. Aber sie funkte nicht nur, sie funktionierte auch.
Die Frau, die als Anna Mae Bullock in Brownsville, Tennessee, von einer Mutter geboren worden war, die ihre Tochter nicht lieben konnte, deren Vater von rassistischen Polizisten totgeprügelt worden war, die im winzigen Nachbarsdorf Nutbush mit der Aussicht Baumwollpflückerin oder bestenfalls Krankenschwester zu werden aufwuchs, bevor sie einen Ausweg fand, der sich als Hölle auf Erden erweisen sollte, diese Frau zog nun ins Kölner Villenviertel Marienburg, ließ sich im Edel-Italiener Tullio Calamari fritti zubereiten, immer am Tisch 1, in der Ecke, links vom Eingang. Abseits der Bühne war sie schlicht Tina und die Vergangenheit und der Ruhm fielen von ihr ab, wie eine ihrer Perücken. Sie konnte im Mad-Max-Film die überlebensgroße Superschurkin unter der Donnerkuppel geben und sich anschließend in ihre Villa in der Ulmenallee zurückziehen.
1994 zog sich das glückliche Paar freilich noch weiter zurück, nach Küsnacht am Zürichsee. Turner nahm die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Sie hatte genug getan. Sie hatte die Rockmusik geprägt wie kaum eine zweite Frau und als erste beweisen, dass man nicht 20 oder männlichen Geschlechts sein muss, um ganz vorne mitzuspielen. 2009 gab Tina Turner ihre letzten Konzerte in Deutschland, präsentierte sich noch einmal mit ungebremster Energie. Es war ihr 50. Bühnenjubiläum. Es war mehr als genug. Die Schmerzensfrau gibt es nicht mehr.
