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Beethoven & ich (4)
Zum Finale der 9.
„Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“. Was ist mit der Verbrüderung dort, wo der „sanfte Flügel“ der Freude nicht „weilt“? Findet sie in der freudlosen Welt nicht statt? Müsste sie nicht gerade hier geschehen? Von Herbert Schnädelbach.
Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund! Und wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund.“ Was sind das für „Brüder“, die die Einsamen und Verlassenen auffordern, sich weinend aus ihrem Bund wegzustehlen? Das hohle Pathos des Schiller-Gedichts hat in Beethovens Komposition deutliche Spuren hinterlassen; als Beispiel mag die wiederholte, geradezu sentimentale Schilderung des „sanften Flügels“ genügen.
Besonders verräterisch ist das unablässige Fortissimo-Geschrei der Chorsoprane buchstäblich in den höchsten Tönen, das unbefangene Hörer und Hörerinnen kaum als musikalischen „Jubel“ auffassen dürften; wer jubiliert, schreit nicht.
Herbert Schnädelbach, Jg. 1936, war Professor für Philosophie in Frankfurt, Hamburg und bis 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin.