Sexismus in der Popmusik: Wo immer er seinen Hut hinlegt

Freiheit in der Musik ist vor allem die Freiheit des Mannes. Von Klaus Walter.
Frei wie die nackte Haut am hellichten Tag, so wie der Markt, zu dem ich sie trag“, singt Jens Friebe in „Frei“, dem Hit seines neuen Albums „Wir sind schön“. In diesem Song dekliniert der Berliner Sänger Rhetoriken und Redensarten rund um die Freiheit durch, die ja wieder schwer im Gerede ist, seitdem Sprachkritiker und Sprachkritikerinnen Aufsehen erregten mit der Deklaration des Wortes Freiheit zur Floskel des Jahres 2022.
Spätestens seit dem Blues in den 20er, 30er Jahren ist die populäre Musik gleichermaßen ein Ort, an dem Freiheit verhandelt wird, wie ein wirksames Instrument, um Freiheit zu erkämpfen, individuell wie kollektiv. Unzählige Bluessongs beschwören die Befreiung aus Unterdrückung und Versklavung, aber auch die Befreiung aus beengten Verhältnissen, aus der – materiellen wie mentalen – Provinz. Und aus Körperpanzern. Der Free Jazz befreit den Jazz aus seinen Konventionen (und erfindet selber neue), der Rock’n’Roll befreit die Jugend aus dem Jailhouse aus Spießertum und sexueller Zwangsabstinenz ... undsoweiter über Woodstock, Punk, Love Parade bis zur narzisstischen Freiheit des performativen Selbstausdrucks bei Instagram & Tik Tok.
Bleiben wir beim Körper, schließlich ist Popmusik diejenige unter den Künsten, die den Körper am direktesten adressiert – Move your body! Shake your booty! Work your body! Dance! Dance! Dance! – und am effektivsten verwandelt: „Sex Machine“ hat mein Leben verändert! Grace Jones hat mein Leben gerettet! Seit ich Billie Eilish gehört habe, bin ich eine andere... Bekenntnisse und Selbstdramatisierungen dieser Art halten Pop am Laufen. Zurück zu Jens Friebe, der ja nicht bloß vorhersehbar die marktliberal lindneristische Libertinage mit ihrem Sylt-Hedonismus in den Blick nimmt, sondern auch interessantere Sachen. Sex zum Beispiel.
„Alle die das hören sind frei, frei wie ein rollender Stein, frei wie ein trollendes Schwein.“ Die männliche Selbstinszenierung als Rolling Stone hat eine lange Tradition. Der Bluesmann Muddy Waters nimmt sich 1950 die Freiheit, den populären „Catfish Blues“ aus den 20er Jahren in „Rollin’ Stone“ umzutaufen und die vulgärexistenzialistische Moritat vom in die Welt geworfenen Stein, der hinrollt, wohin der Wind ihn weht (okay, die Metapher ist ein bisschen windschief), zum xxxten Mal zu erzählen.
Fünf weiße Bluesfans aus England um den (anfänglichen) Leader Brian Jones nehmen sich in den frühen Sechzigern die Freiheit, ihre Band nach dem Muddy-Waters-Song zu benennen und werden zu Weltstars mit Songs, die die sexuellen Freiheiten des Mannes feiern: „I’m free to do what I want“, sein unersättliches Begehren: „I can’t get no satisfaction“, sein Recht auf Rache: „Under my thumb, the girl who once had me down“, sowie das Recht auf Umtausch bei Erreichen des Verfallsdatums: „Baby, Baby you’re out of time.“
Vier Songs, die auch den Libidohaushalt des selbstbehaupteten letzten Rock’n’Rollers der deutschen Politik erschöpfend illustrieren. Bei der Partnerinnen(ab)wahl hielt sich Joschka Fischer ja streng an die 68er Regel: Trau keiner über dreißig. (Da fällt mir ein Witz aus der rotgrünen Alphamänner-Ära ein: „Warum dürfen Schröder und Fischer nie gemeinsam im selben Flieger reisen? Zu teuer! Zu viel Witwenrente, wenn er abstürzt.“)
Den freiheitlichen Signaturmove des Rolling Stone feiert ein euphorischer junger Marvin Gaye 1962: „Wherever I lay my hat, that’s my home“, und wenn ich den Hut wieder vom Haken nehme, bin ich halt weg, egal ob ich dir ein Baby hinterlasse oder bloß ein bisschen Liebeskummer. Zum Hit wird „Wherever I Lay My Hat“ erst 1983, in einer drastisch verlangsamten, vergrübelten Fassung des weißen Briten Paul Young, der zwar eine nachdenklich reflexive Version hinlegt, am Ende aber doch nicht anders kann als: Wo ich meinen Hut aufhänge, bin ich zu Hause.
„Wherever I lay my hat, that’s my home“, 1971 nehmen sich die Temptations (selten hat ein Name besser gepasst: Die Versuchungen) die Freiheit, den Gaye-Refrain zu entführen, für ihren genredefinierenden Hit des Psychedelic Soul: „Papa was a rolling stone, wherever he...“ ist ein Musterexemplar in Sachen Text-Sound-Schere, vielleicht auch ein Fall von kognitiver Dissonanz. Der Text kritisiert aus soziologischer, wenn nicht gar feministischer Perspektive das verantwortungslose Verhalten des ewig flüchtenden, nichtsesshaften Baby Fathers, der in Black America in bestimmten Segmenten der Gesellschaft eher Regel ist als Ausnahme.
Allerdings nehmen sich die Vokalartisten der Temptations die Freiheit, die Freiheit des herumstreunenden, unbändigen Rolling Stone als derart unwiderstehliche Versuchung hochzusingen, dass die Kritik der Worte gegen die Magie des Sounds verpufft. Und dass ihr Rolling Stone zur Blaupause ungezählter Rap-Tracks wird, die mit dicken Eiern die Freiheit des freifloatenden, freifickenden Mannes zelebrieren, der eine vaterlose Gesellschaft der Single Mothers hinterlässt.
Die misogynen Züge Bob Dylans sind hinreichend dokumentiert, weswegen wir dessen „Rolling Stone“ an dieser Stelle ignorieren können. Besser zurück zu Jens Friebe: „Frei ist nur, wer nichts zu verlieren hat, hab ich im Ohr. Ich hatte die Platte, aber ich hab’ sie verloren.“ – „Freedom is just another word for nothing left to lose“, singt Janis Joplin 1969 mit den Worten von Kris Kristofferson und landet mit „Me and Bobby McGee“ ihren größten Hit. Posthum, denn Joplin stirbt im Oktober 1970 an einer Mixtur aus Alkohol und Heroin.
Die Freiheiten des sogenannten Rock’n’Roll-Lifestyle inklusive der Lizenz zur Selbstzerstörung werden bis heute gern verklärt, etwa mit der dämlichen Formel vom „Leben auf der Überholspur“ oder mit der Erfindung des Club 27, zu dem neben Joplin auch Jimi Hendrix und Jim Morrison gehören, später Kurt Cobain und Amy Winehouse, alle tot mit siebenundzwanzig.
Im Unterschied zu den anderen aus dem Club muss sich Janis Joplin Zeit ihres Lebens sexistische Erniedrigungen gefallen lassen, weil sie Männer und Frauen liebt, weil sie nicht normschön ist, weil sie nichts dagegen unternimmt, dass sie nicht normschön ist, weil sie sich in unvorteilhaften Posen zeigt, statt sich zu verstecken.
Eine fiese kleine Gemeinheit verdankt Joplin ihrem Kollegen Leonard Cohen. In seinem Song „Chelsea Hotel #2“ berichtet der notorische Ladies Man von einem Blowjob im Lotterbett: „You were giving me head in an unmade bed“ und lässt später alle Welt wissen, dass es Janis Joplin war, die ihm Head gab. Der Song über das befreite Sexleben der Manhattan-Bohemia gipfelt in der T-Shirt-Slogan-tauglichen Zeile „We are ugly, but we have the music.“ Ach, der Frauenschwarm und hässlich? Nein, wenn da jemand ugly ist, dann doch wohl sie, die den Blowjob liefert. Lange nach ihrem Tod hat Cohen erklärt, dass er es bereue, Janis so bloßgestellt zu haben. Zu spät.
Dass die Freiheiten, zumal die sexuellen, nicht immer paritätisch gerecht verteilt sind, darauf weist Christiane Rösinger hin, übrigens bekennende Cohen-Adeptin. Ihr Song trägt den eher uncohenesk undezenten Titel „Freiheit aus einem Männermund (Kotzen)“: „Es ist eine allergische Reaktion, / Es ist ein rein körperlicher Entschluss /Dass ich jedes Mal, wenn ich das Wort „Freiheit“ / Aus einem Männermund höre /Kotzen muss.“
Man darf an die sogenannte sexuelle Revolution der sechziger Jahre erinnern, an die heute recht ranzig anmutende Parole: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Warum hat sich niemand darüber gewundert, dass die nie gegendert wurde: „Wer zweimal mit deMselben pennt, gehört schon zum Establishment“?
Wenn es um Freiheit geht, zumal um sexuelle, sind zwei Fragen untrennbar miteinander verknüpft. Um wessen Freiheit geht es? Und auf wessen Kosten geht diese Freiheit? Bei den Rolling Stones dieser Welt, siehe oben, sind die Antworten relativ klar. Eindeutig ist auch, welche und wessen Freiheit die Wochenzeitung „Junge Freiheit“ verteidigt, das Zentralorgan der Neuen Deutschen Rechten. Weniger eindeutig liegen die Dinge etwas weniger weit rechts, bei der Springerpresse. Die Bildzeitung krakeelt unentwegt gegen die angebliche Cancel Culture, die uns liebgewonnene Freiheiten nehmen will: Fleisch essen, mit dem Auto Zigaretten holen, nach Malle fliegen, Böller.
Etwas subtiler führt das Schwesterblatt „Die Welt“ den Kulturkampf um die Freiheit. Unter der Leitung des popsozialisierten Chefredakteurs Ulf Poschardt wird hier nicht nur das Menschenrecht auf Porschefahren verteidigt. Gern lässt die „Welt“ auch ehemalige oder nach eigener Auffassung immer noch Linke zu Wort kommen, um qua Biografie den Nachweis zu führen, dass die heutige woke Linke mit ihrer angeblichen Verbotskultur genau jene Freiheiten wieder einschränken will, für die die gute alte Linke einst gekämpft hatte.
So sei etwa der 68er Diskurs über „befreite Sexualität“ in sein Gegenteil umgeschlagen, hieß es kürzlich exemplarisch in einem Gespräch mit der Philosophin Tove Soiland, geführt von Jakob Hayner, der sich bei der linken, aber dezidiert anti-woken „Jungle World“ für den Job bei der „Welt“ qualifiziert hat. Soiland sagt: „Frappant ist, wie unglaublich rigide die sexuelle Befreiung geworden ist. Und auch das Sprachverhalten ist unglaublich rigide geworden, wie es in der ödipalen Gesellschaft unvorstellbar gewesen wäre. Die jungen Menschen heute machen sich Regeln, die hätten sie bei keinem ödipalen Vater geduldet, der wäre gelyncht worden. Der Versuch, das unbewusste Genießen zu erziehen, führt zu einer Polarisierung in der Gesellschaft. Die fortschrittlichen Kräfte werden immer strenger, bis zu der Vorstellung, alles müsse per Vertrag geregelt werden... Die Rechte verteidigt nun die freie Sexualität, während sich die Linke für deren Verregelung einsetzt, das hat sich umgekehrt.“
Hier wäre wieder zu fragen: Wessen freie Sexualität verteidigt die Rechte? Auf wessen Kosten? Und wessen Freiheit und Sicherheit verteidigt eine neue Linke – in der „Welt“ etwas onkelhaft „die jungen Menschen“ genannt –, die sich selbst als sexpositiv begreift und sich gerade deswegen gewisse Regeln gibt? No means No, einvernehmlicher Sex, Selbstverständlichkeiten, die nur rigide finden kann, wer sich sexuelle Befreiung vorstellt wie Dieter Bohlen. Oder Mick Jagger: I’m free to do what I want any old time.