Vermeidungsübungen

Strenge Konzeptionen und unklare Ergebnisse bei der Münchner Musiktheater-Biennale 2018.
Hans Werner Henze dachte gerne groß; das verband ihn ja mit München. Als er vor 30 Jahren die „Biennale für Neues Musiktheater“ gründete, erhoffte er nicht weniger als eine Belebung des Repertoires in den Staats- und Stadttheatern. Von den regelmäßigen Münchner Opernaufträgen an kaum über 30-jährige Musikszeniker sollten die internationalen Spielpläne profitieren – eine hochfliegende Idee, hinter deren volksbildnerischem Idealismus sich eine erstaunliche institutionelle Fixierung verbarg. Von Henzes populärer und pädagogischer Schlagseite ließ sich der nüchterne und trockene künstlerische Nachfolger, Peter Ruzicka, nicht leiten. Er erkannte, dass die Tendenzen der ambitionierten Musiktheatralik nicht auf eine Verschmelzung mit dem normalen Opernbetrieb hinzielten, sondern zu einer breiter werdenden Nische innerhalb einer unabhängigeren, womöglich multimedialen Festivalkultur. Daniel Ott und Manos Tsangaris, Biennalechefs seit 2016, setzen die Ruzicka-Linie im Prinzip fort und rücken dabei die Henze-Konzeption erst recht in ein „historisierendes“ Licht.
Popularisierung übersetzt sich für die aktuelle Biennale-Ästhetik elite-skeptisch als weidlicher Exodus aus traditionellen Kunst-Lokalitäten und Kunst-Formen. Größere Nähe zum Alltäglichen, Grenzverwischung zwischen Innen und Außen, Realität und Virtualität, privat und öffentlich (und damit implizit: subjektiv und konsensorientiert?). Einige Stringenz zeigte das diesmalige Motto „Privatsache“. Mit derartigen Ideen hantieren Ott und Tsangaris noch experimentierfreudiger als Ruzicka. Und keine Frage, dass dabei auch besonders viel danebengehen kann, wie sich bei dem zweiten von ihnen verantworteten Biennale-Jahrgang zeigte. Eine Materialschlacht, ein panoramatischer Testlauf durch Münchner Lokalitäten, der letztlich weniger eine Durchsäuerung der ganzen Stadtkultur mit Biennale-Elementen demonstrierte als an wechselnden Schauplätzen die immergleichen Interessentengrüppchen versammelte.
Ehrensache ist auch für Ott/Tsangaris die Abkehr vom linear erzählenden Musiktheater. Das ergibt interessante Fokussierungen, aber auch Verengungen. Insbesondere rüttelt das Misstrauen gegen „Geschichten“ am Zeitcharakter des Theaters. Simpel gesagt: Stücke sind keine Stücke mehr, sondern, wie Objekte der Bildenden Kunst, räumliche Installationen innerhalb einigermaßen beliebiger Zeitdispositive. Man kann’s auch zugespitzter formulieren: Die Biennale favorisiert musiktheatralische Übungen zur Vermeidung von Musiktheatralik.
Eine ganze Menge der Novitäten ließ sich leicht über diesen Kamm scheren, so gleich das Eröffnungsprojekt „Wir aus Glas“ von Yasutaki Inamori (Komposition) und Gerhild Steinbuch (Text) in einer aufwändigen Inszenierung von David Hermann, die drei Raumsegmente der Muffathalle hin- und herfahrend mobilisierte, um den Blick auf ein zumeist trostloses zentrales Arrangement zu flexibilisieren. Es mochte wie eine bürgerlich entzahnte Variante der „Dschungelcamp“-Konstellation anmuten – elf instrumentale und vokale Solisten, dazu ein chorus mysticus (eine Kooperation mit der Deutschen Oper Berlin). Besonders hirnverödend ein Akteur, der, völlig ironiefrei, so etwas wie eine im Jammertrab daherkommende, läppisch-peinlich formulierte Vanitas-Philosophie verkörperte.
Schlicht in die Rubrik „Klanginstallation“ (von Wolfgang Rihm frech als „tönende Gartenzwerge“ klassifiziert) fielen Clara Iannotta & Anna Kubelik mit „Skull ark“ (vier unbewegte Frauenkörper in einem metallischen Labyrinth, periodischen Licht- und Geräuschzuckungen ausgesetzt) und Marek Poliks Ein-Mann-Performance „Interdictor“ (Südpolfahrer oder Astronaut in einem hochtechnologisch ausgestatteten Zelt). Gelten lassen konnte man „Third Space“ von Komponist Stefan Prins und Choreograf Daniel Linehan, ein dramaturgisch quasi ungerichtetes Gewusel von Tänzern, Instrumentalisten und auf die Bühne komplimentiertem Publikum. Außer den wunderlichen Aktionen der Wiener Klangforum-Musiker – darunter einem mit einer verquetschten Getränkedose „präparierten“ Kontrabass – beeindruckten die sich über 90 Minuten enorm verausgabenden sieben Tänzer, man könnte sagen: Installation in Bewegung. Von unspektakulär sublimem Reiz noch die kleine Etüde „Bubble“ von Lam Lai u.a., drei Mini-Spaziergängen. Es kam zu Passanten-Begegnungen, die, hübsch die Wahrnehmung verunsichernd, die Frage ihrer Inszeniertheit stellten: der Mann mit dem Kopf in der blauen Mülltonne (ja), die auffallend laut Telefonierende (ja), der rübezahlmäßig behaarte Wanderer mit Riesenrucksack (nein), der Pizzaausfahrer auf dem pinken Rad (nein).
Ein Projekt gab es, das in jedem Detail faszinierte und womöglich aufkeimende Biennale-Skepsis hinwegfegte: „Ein Porträt des Künstlers als Toter“ des Argentiniers Franco Bridarolli (Musik) und des Italieners Davide Carnevali (Text, Regie). Bezeichnenderweise eine richtige „Geschichte“, wenn auch unkonventionell erzählt in verschiedenen Räumen mit interaktiv einbezogenem Publikum. Dieses wird zu „Zeugen“ und Mitrechercheuren in der Affäre um einen verschwundenen, wahrscheinlich während der Diktaturjahre von der argentinischen Junta ermordeten Komponisten.
Eine typisch argentinische Geschichte wie eine der Kriminalerzählungen von Bioy Casares – nichts ist sicher, das Ganze ein enigmatisches Monument von Mutmaßungen, Indizien, Wahrscheinlichkeiten, die auch die Autoren und den exzellenten einzigen Darsteller Daniele Pintaudi in ihre Rätselstruktur einsaugen. Pintaudi ist zudem ein geschickter Pianist, der die anfangs (mit bloßer Ambiente-Musik nach Art von David-Lynch-Soundscapes) etwas unplausible Rolle der Musik bald glaubwürdig befestigt durch Vortrag der fiktiven, zwischen Skrjabin-Akkorden und Boulez-Zerstäubungen pendelnden kompositorischen Hinterlassenschaften des Toten. Diese Produktion, in Zusammenarbeit mit der Berliner Lindenoper realisiert, ist ein Wurf.
Münchner Biennale: bis 12. Juni. http://www.muenchnerbiennale.de