Ukrainisches Orchester in Wiesbaden: Jenseits der Normalität

Das Kyiv Symphony Orchestra macht auf seiner kurzfristig organisierten Tour Station in Wiesbaden.
Was also tun in schrecklicher Bedrängung? Das Kyiv Symphony Orchestra hat, Bilder zeigen das, in der gefährlich gewordenen ukrainischen Hauptstadt unter freiem Himmel gespielt. Ein klassisches Wir-sind-noch-Hier. Das Orchester, obwohl in Teilen natürlich schon zersprengt, will sich nach eigenem Bekunden nicht auflösen, aber es kann auch nicht das vertraute und offenbar rege Programm fortführen – wie, sagen wir einmal zum Beispiel, das Marinsky Theater in Petersburg, das Oper und Konzert in gewohntem Umfang ankündigt, Valery Gergiev war vor wenigen Tagen mit einem Ballettabend auf dem Spielplan.
Das Orchester im attackierten Kiew fing stattdessen an, ein ad-hoc-Tourneeprogramm für Deutschland zu organisieren. Sieben Orte, jetzt das Kurhaus Wiesbaden, wo das Rheingau Musik Festival als Veranstalter auftrat. Unterstützt wird mit den Einnahmen der Tour unter anderem das kürzlich nach Slowenien geflohene Jugendsinfonieorchester der Ukraine, 2016 gegründet (auf Initiative der Dirigentin Oksana Lyniv). Aus der Ukraine geflüchtete Menschen können auch das Wiesbadener Konzert kostenfrei besuchen. Zum Schlussapplaus ein paar ukrainische Fahnen.
Das ist die Lage. Auf dem Wiesbadener Programm, geleitet vom italienischen Chefdirigenten des Orchesters, Luigi Gaggero, ukrainische Komponisten und ein Franzose. Das imposanteste Stück nach der Pause, die Sinfonie Nr. 3 von Borys Ljatoschynskyj (1895-1968), ein wuchtiges, reich orchestriertes Schostakowitsch-haftes Werk. Scharfes Blechwerk, Flöten zischen, Streicherwogen dräuen, die Schlagwerkcombo um die Paukenspielerin hat viel zu tun. Das in sehr jung wirkender Besetzung antretende Orchester kann sich hier auch in seinen Stimmgruppen hören lassen, die ausgezeichnete Form zeigen. Zweifel können einen höchstens ankommen, ob Konzertspielpläne vielfältig genug gestaltet sind.
Klassik und Melancholie
Denn reizvoll ist ja auch das erste Stück und führt in die Atmosphäre der Wiener Klassik mit der Sinfonie C-Dur des in Italien ausgebildeten Maxim Beresowski (1745-1777). Sanft drängt die Musik, Gaggero, der das Orchester seit 2018 leitet, dirigiert lebhaft, großes Einverständnis herrscht.
Große Melancholie dann mit dem Violinisten Aleksey Semenenko und dem „Poème für Violine und Orchester“ von Ernest Chausson (1855-1899) sowie der hymnisch und filmmusiktauglichen „Melodie“ von Myroslav Skoryk (1938-2020). Seiner ergreifenden Zugabe, Walentyn Sylwestrows „Serenade“ für Solovioline, wird mancher dieser Tage schon begegnet sein. Und die ukrainische Nationalhymne könnte man inzwischen mitsummen. Aber die meisten standen still da und hörten zu.
Die Tournee führt heute, Samstag, nach Hannover (Congress Centrum, Kuppelsaal) und endet am 1. Mai in der Hamburger Elbphilharmonie.