1. Startseite
  2. Kultur
  3. Musik

Suicide mit „Surrender“: Ghost Rider in Las Vegas

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Olaf Velte

Kommentare

Alan Vega und Martin Rev 1979 „an einem frühen Sonntagmorgen in New York“.
Alan Vega und Martin Rev 1979 „an einem frühen Sonntagmorgen in New York“. © (c) Adrian Boot / Urbanimage.tv

Die Sammlung „Surrender“ dokumentiert die zeitlose Kunst von Alan Vega und Martin Rev.

Die Straßen Brooklyns haben sie mit ins Studio genommen. Und auf die Bühne. Und in die Musik. Alan Vega und Martin Rev – die sich unter dem Namen Suicide in den frühen Siebzigern formiert haben – ging es nie um Unterhaltung, nie um Glamour und Ruhm. Der Rock’n‘Roll hatte entblößte Realität zu transportieren – in schmerzhafter Intensität und kompromissloser Darbietung.

Zwei Jahrzehnte nach dem letzten Album haben Vega-Witwe Liz Lamere, Martin Rev und Henry Rollins die erste offizielle Zusammenstellung des Suicide-Schaffens herausgebracht. „Surrender“ versammelt 14 Stücke, zu denen sich noch die ellenlange Ur-Version des berüchtigten „Frankie Teardrop“ gesellt. Eine frisch abgemischte Dokumentation, die jede Phase zwischen 1977 und 2002 in ausgewählten Beispielen hörbar, gleichzeitig die Bedeutung einer branchenweit beispiellosen Duo-Arbeit deutlich macht.

Das denkbar einfache Programm ist von minimalistischer Wucht und immensem Einfluss auf die Welt des Populären: Rev = Electronics, Vega = Voice. Bewusst verzichtet wird auf das übliche Beat-Instrumentarium, auf die bekannten Muster und Herangehensweisen. Mit Suicide gelangt der Begriff „Punk“ ins menschliche Universum, daneben ein dem Freejazz abgelauschter und innovativ entwickelter Improvisationswillen.

Niemals zuvor hat Musik derart geklungen. „We were just inside the sound“, hat der im Juli 2016 verstorbene Alan Vega einmal zu Protokoll gegeben. Von den wilden Stooges um Berserker Iggy Pop inspiriert, bildet sich eine aufregende Synthesizer-Stimmkunst-Monotonie, die schließlich in Dance, Techno, Ambient, Elektro-Avantgarde, Industrial münden wird. Unbehelligt lassen diese Tracks keine Seele – einmal durchs Ohr eingedrungen, bleibt es bis zum jüngsten Tag im Leiblichen eingelagert.

Die Anordnung auf „Surrender“ verbindet Themen und setzt harte Schnitte. Seit jeher auf Konfrontation aus, das Gegenüber nicht schonend, nicht einlullend, ist das Rev-Vega-Team hakenschlagend unterwegs, sich ständig neu positionierend, abseits jedweder Beliebigkeit. Die unerhörten – heute klassisch gewordenen – Kracher des Debüts lassen noch immer den Puls rasen: „Rocket USA“ und „Ghost Rider“ verhandeln und zerlegen überlieferte Rock-Motive, „Cheree“ als herrliches Liebeslied beglückt mit des Glöckleins Klang und viel „Baby, Baby, Baby.“

Überhaupt ist auffallend, wie Vega aus wenigen Zeilen – karge Lyrics, die oft während der Sessions und augenblicklich entstehen – eine ganze Epoche definieren kann. „Wrong Decisions“ und „Dachau, Disney, Disco“ stammen von der 2002er Abschiedsplatte und folgen hier nacheinander. Da wird die im freien Flow eingebettete Analyse des Club-Zeitalters brutal in die schiere Auflösung aller Strukturen überführt – eine zuletzt gnadenlose Zersplitterung, in der auch die Stimme des Individuums verlischt.

Das Titelstück aber ist eine Sensation eigener Art. Im Wechselsang mit hellen Frauenstimmen offenbart sich Alan Vega als Crooner von Format, als ein Elvis in Las Vegas, als Hit-Sänger einer schöneren Zukunft. Dass dieser Mann ein Stimmenzauberer ohnegleichen ist, wird ebenso deutlich wie die raffiniert zupackende Eleganz von Taktgeber Martin Rev.

Beide haben seit jenen Anfangstagen auf zerstörten und bespuckten Bühnen ständig gearbeitet, dem Visionären in mannigfachen Kollaborationen zum Ausdruck verholfen. Freiheit der Kunst meint im Suicide-Kosmos auch: Freiheit des Menschen, Respekt, Ehrlichkeit.

Wer sich „Surrender“ auf den Merkzettel notiert, sollte „Cubist Blues“ dazuschreiben: Im kalten Dezember 1994 haben sich Vega, Alex Chilton und Ben Vaughn zwei Nächte lang in einem New Yorker Studio verschanzt, ohne Vorgefertigtes, durchlässig für Kommendes. Was damals in einer Nebelwand von Zigarettenrauch zur Welt gebracht wurde, bewegt sich jenseits kontrollierter Grenzen. Bis heute und noch immer.

Suicide: Surrender. Mute / BMG.

Auch interessant

Kommentare