Das singende Sinfonieorchester

Das Budapest Festival Orchestra mit Iván Fischer, András Schiff und schönen Stimmen.
Es gibt das „Fliegende Klassenzimmer“, den „Singing Christmas Tree“ und jetzt auch das singende Sinfonieorchester. Zum zweiten Mal haben die Musiker des Budapest Festival Orchestra unter Leitung Iván Fischers das Publikum bei den Sonntagabendkonzerten der Alten Oper in dieser Doppelfunktion beglückt. Über das gesamte Podium verteilt, dort stehend, wo sie ansonsten sitzen, begann das Frankfurter Gastspiel der ungarischen Musiker mit Antonín Dvoráks „Opu?tený“, einem Lied für gemischten Chor op. 29.
Sicherlich sind die Kehlen der Sinfoniker noch nicht ganz so geschult wie ihre Stimmen als Instrumentalisten, aber das Legato, die harmonische Differenz, die Homogenität – das konnte sich hören und sehen lassen, denn der Verzicht auf Chorpräsenz als Block unter der Orgel hinten an der Wand gab dem Auge schöne Blickaufgaben für Posituren und Kostüme im großen Bühnenfeld. Die „Legende Nr. 6“ op. 59 und der Slawische Tanz Nr. 5 schlossen sich an und ließen den Eindruck entstehen, man sei in einem reinen Zugabenkonzert.
Das änderte sich mit Ludwig van Beethovens 1. Klavierkonzert nicht nur ob des herrischen Tons der französischen Revolutionsmusiker Étienne-Nicolas Méhul und François-Joseph Gossec, die hier thematisch Pate gestanden haben mochten. András Schiff bot eine exemplarische Erfahrung in sinnhafter Zusammenfügung der Stimmenvielfalt. Seinerseits ganz unaufgeregt regte sein Zugriff die Variabilität des Tonsatzes für das Ohr so sehr an, dass sich die übliche Unterscheidung von Nebenstimmen sowie weiterem Füllstoff und melodischer Hauptsache verflüchtigte. Alles war in einem gleich lockerem und doch fest genommenem Modus gegenwärtig, was plastische Figuration bescherte.
Die bis ins Derbe reichende hum-ta-ta-Walzerländlerei des 2. Satzes etwa, die bei aller Volkstümlichkeit doch immer entschieden Fallhöhe besaß und bei allem französischen Masse-Rumoren auch die Inseln beethovenscher Subjektivität in Eigensinnigkeit auswies. Zum zweiten Mal öffneten dann die Budapester die Münder, zur Zugabe versammelt um den Flügel, wo Solist und Sanges-Tutti Joseph Haydns Chorlied „Der Greis“ zum Besten gaben.
Dessen erste Zeile „Hin ist alle meine Kraft“ war nicht auf die Künstler zu beziehen, sondern auf einen zur Versteinerung neigenden Musikbetrieb, bei dem schon das Spielen einer anderen der Dvorák-Sinfonien als deren Numero 8 oder 9 einem ungehörten Vorgang gleichkommt. Die Musiker wirkten wie von der Kette gelassen, das Publikum hatte etwas, was gefiel und doch fast unbekannt war, wie so vieles im gigantischen Fundus der Musikgeschichte. Man braucht keine drittklassige Verlegenheitsmoderne, um neue Eindrücke zu gewähren.