1. Startseite
  2. Kultur
  3. Musik

Von der Schwierigkeit, bis drei zu zählen

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Andrés Orozco-Estrada erklärt uns das "Frühlingsopfer": Ein Riesenspaß mit dem HR-Sinfonieorchester.

Es durfte gepfiffen und gemault werden, gesungen, bis zwei, bis drei und bis vier gezählt, was viel einfacher klingt, als es ist. Später haute ein kleiner Junge zehnmal auf die Pauke. Elfmal, aber egal. Das Publikum sang also zum Beispiel gar nicht inkompetent die ersten Takte. Dann sang es die ersten Takte eine Oktave höher. Das war schon pikanter. Die unerhörte Lage, die Igor Strawinsky dem Fagottspieler zu Beginn der Ballettmusik „Le sacre du printemps“ zumutet, zeigte sich praktisch am eigenen Leib, auch wenn im Mini-Gespräch mit dem Solo-Fagottisten Ralph Sabow von der Wahl des richtigen S-Bogens (Legierung, Wandstärke) sowie den übermäßig komplizierten Griffen in dieser Lage die Rede war – und von der Verantwortung, als erstes Instrument des Abends für die „mystische Atmosphäre“ zu sorgen. Alles sei letztlich eine Risikoabwägung, sagte Sabow noch, das perfekte Wort für das Abenteuer Orchestermusik, das sich an einem Wahnsinnsstück wie dem „Frühlingsopfer“ besonders eindrucksvoll vorführen lässt.

„Spotlight“ – ein bisschen cool habe es halt klingen sollen, so Andrés Orozco-Estrada – heißt eine neue Gesprächskonzertreihe des HR-Sinfonieorchesters, bei der der Chefdirigent ein Werk besonders ausleuchten will. Oder soll und jedenfalls kann. Ein bisschen Pädagogik, Werbung für die Sache der klassischen Musik und Ermutigung gegen Schwellenangst gehören heute zum Geschäft, dem Hessischen Rundfunk steht dafür allerdings auch ein großartiger Alleinunterhalter zur Verfügung. Der Mikrofonwechsel war eine Einlage, für die Komiker lange üben müssen. Es wäre jetzt etwas albern zu sagen, dass man alle seine Sorgen dabei vergaß. Aber man vergaß alle seine Sorgen dabei.

Orozco-Estrada erzählte also von jenem sorgfältig inszenierten Skandal vor 104 Jahren und gab Gelegenheit, an jener Stelle zu buhen, an der auch das Pariser Publikum (bzw. die vom PR-erfahrenen Impresario Djagilew tüchtig ermutigten Randalemacher) unruhig wurden. Wie damals oder noch mehr war aber im Großen Saal der Alten Oper alles trefflich eingerichtet, das Publikum ließ sich von der Disziplin des in großer Formation angetretenen Orchesters anstecken und reagierte auf jeden Wink des Dirigenten.

Dass Chaos und Tohuwabohu in der Musik die abgefeimteste Ordnung verlangen, zeigte sich beim Nachstellen der dramatischen Polyrhythmik – der Zähl-Teil, der überhaupt nicht klappte, glaube ich, aber man war ja selbst viel zu sehr damit beschäftigt, irgendwie bis drei zu kommen. Nie wieder wollen wir über den Mann am Güiro lächeln, der über dem Ganzen noch einen wieder anderen Rhythmus durchzieht. Die Leute müssen Nerven wie Stahl und Taktgefühl wie Frau Zeit persönlich haben.

Nachher durften einige Zuschauer mit auf die Bühne. Erst traute sich keiner, dann wurde klar, wie toll das ist, und dann war der Andrang groß. Einige durften ans Schlagzeug. Dann wurde die Zeit knapp (wie hier der Platz) und mehr gespielt. Auch gut, auch der Wahnsinn. „Werden Sie verrückt“, sagte Orozco-Estrada, „das gehört dazu.“ Ein Heidenspaß, das Ganze. Am 23. Januar geht es um Berlioz’ „Symphonie fantastique“.

Auch interessant

Kommentare