Die Sängerin ist bewegt
Scandalo und das blaue Blau: Ein großer Rock-Abend mit Gianna Nannini in der Alten Oper.
Nel blu dipinto di blu ...“ – 1958 hat Domenico Modugno beim Festival in Sanremo für „Volare“ den ersten Preis erhalten. Vor ein paar Jahren hat Gianna Nannini den Welthit auf ihrer CD „Hitalia“ eingespielt, jetzt gröhlt sie den Gassenhauser in der Alten Oper. Das heißt, sie lässt gröhlen. Mit charakteristischer Reibeisenstimme gibt sie den Ton vor – aus hunderten Kehlen kommt der Refrain.
Mit einer sehr jungen und sehr clever aufspielenden Band ist die Sängerin aus Siena derzeit auf Tournee und stellt ihre jüngst erschienene CD „Amore Gigante“ vor – den Abend in Frankfurt allerdings bestreitet sie hauptsächlich aus dem reichhaltigen Fundus älterer und hierzulande immens erfolgreicher Lieder. Eines davon eröffnet den Abend: „Latin Lover“ – veröffentlicht 1980 und auf ungemein sympathische Weise jung geblieben. So frisch wie die Interpretin, die hier über die Bühne kobolzt. Ende der Siebziger, Anfangs der Achtziger hatte sie mit Liedern wie „California“ oder „America“ erste Erfolge – eine Nachwuchsrockerin auf den Spuren von Janis Joplin, könnte man meinen (eingestandenermaßen: ihr großes Vorbild). Aber nein, die junge Frau singt ihre Texte auf Italienisch und nimmt kein Blatt vor den Mund. „Scandalo“ wird sie später am Abend singen, ein Fingerzeig auf große und kleine Zusammenstöße mit den Sittenwächtern in ihrer Heimat.
Hierzulande traf sie damals den Nerv der Zeit. Und sie machte nicht nur eine sehr tanzbare Musik, sie brachte auch in ihren Texten so manches zum Tanzen. Das Cover von „America“, ein Titel, der vom Publikum lautstark gefordert wird, war die Freiheitsstatue zu sehen, in der Hand statt Fackel einen Vibrator. Auch hier: Scandalo.
Nach „Latin Lover“ (1982) folgten zwei weitere Erfolgsalben mit dem Produzenten Conny Plank, bevor die Rocksängerin in den folgenden Jahren mit Pop und Elektronik experimentierte, mit Filmmusiken, auch Auftritten mit Streichquartett. Jetzt aber kommt sie mit einem sehr nostalgisch-rockigen Programm, geschickt arrangiert die Songs, druckvoll gespielt und immer wieder Forum für den begeistert mitgehenden Chor im Saal: „Bello e impossibile“, „Ragazzo dell’Europa“, „Profumo“, – eine Hommage an ihre erfolgreichste Zeit. Nur zuweilen ein Blick auf die späteren Jahre mit „Meravigliosa creatura“ (1995) oder „Io e te“ (2011). „Fenomenale“ streut sie noch ein von der neuen CD, und „Piccoli particolari“, keine schlechten Lieder, aber die rotzige Frische der alten Hits fehlt ihnen doch.
Im weiten weißen Hosenanzug stürmt Gianna Nannini zu Beginn über die Bühne, den zweiten Teil des Abends wird sie in Jeans und mit schwarzem Shirt bestreiten. Sie macht, was sie sich vorgenommen hat: den Saal zu rocken. Mit ungemein präsentem Schlagzeug, fettem Bass und Gitarren, die lautstark und herrlich simpel den Rock vergangener Zeiten beschwören: Es herrscht Stadion-Atmosphäre. Mit einem wesentlichen Unterschied: Nähe ist möglich. Von Anfang an tummeln sich die Fans dicht an dicht gedrängt vor der Bühne. Man reicht ihr Devotionalien hoch, T-Shirts und Luftballons. Die Sängerin ist sichtlich bewegt und verneigt sich tief vor ihrem begeisterten Publikum.