Ryuichi Sakamoto: „12“ – Ein Tagebuch in Klängen

Innerlichkeit und Abstraktion: Ryuichi Sakamoto legt sein Album „12“ vor, an dem er während eines langen Krankenhausaufenthalts nach einer Krebsoperation gearbeitet hat.
Weit verzweigt ist das Werk von Ryuichi Sakamoto, vielgestaltig und kaum noch überschaubar. Die Diskografie der Alben unter seiner Beteiligung beläuft sich auf beinahe 300 Positionen, beim großen Publikum am bekanntesten ist er wohl als oscar- und grammyprämierter Filmkomponist, unter anderem für „Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence“(1983), „Der letzte Kaiser“ (1987) und „Little Buddha“ (1993). Erstmals auf der internationalen Bildfläche erschienen war er 1978 mit dem Yellow Magic Orchestra, das sich wegen seines Elektropop-Avantgardismus die mäßig treffende Zuschreibung „die japanischen Kraftwerk“ zuzog – die Musik des Yellow Magic Orchestras indes war leichthändiger und unbeschwerter, mitunter mit ausgeprägtem Humor.
Für das Klavier hatte sich der klassisch ausgebildete Pianist und Komponist längere Zeit wenig interessiert, später dann Soloalben wie „Playing the Piano“ (2009) eingespielt, die sich unter dem Label „Neoklassik“ einordnen lassen. Einen weiteren wichtigen Strang bildet die 2002 begründete Zusammenarbeit als Pianist mit dem als Alva Noto firmierenden Berlin/Chemnitzer Klang- und Installationskünstler Carsten Nicolai mit bisher fünf Alben.
Elektronik und Klavier sind, wie auch in der künstlerischen Partnerschaft mit Alva Noto, die beiden Klanggeber auf „12“, dem neuen Album Ryuichi Sakamotos – allerdings bei nicht mehr als vier der zwölf Nummern in ein und demselben Stück. Allesamt sind sie mit dem Tag ihrer improvisatorischen Entstehung – von „20210123“ bis „20220307“ – bezeichnet. Dazu später mehr. Der Sound vom Synthesizer ist im Übrigen ein ganz anderer als bei den grafisch-artifiziell flirrenden und surrenden Klängen Alva Notos. Die sphärische Weite etwa in der eröffnenden Nummer lässt sogar eine Assoziation zu „New Age“ zu.
Auf der anderen Seite stehen Klavierstücke mit einem langen Nachhall in der Grundierung und darüber einer reduktionistischen Melodiestimme à la Satie. Soweit sich von Melodie sprechen lässt. Das gleiche Strukturprinzip gilt auch für das Zusammenwirken von Synthesizer und Klavier.
Zarte Miniatur für Zimbel
Dann lässt mal ein musikalisch fließendes Stück aufhorchen, Bezugspunkt ist hier der Impressionismus um Debussy und Ravel oder Albert Roussel. Eine lineare Entwicklung wird später auch eine weitere an Satie erinnernde Komposition prägen. Zumeist jedoch scheint die Zeit eher stillzustehen. Jedes einzelne Stück hat eine markant eigene Kontur, am Schluss steht eine zarte Miniatur für Zimbel.
Nach einer ersten Krebserkrankung 2014 ist vor zwei Jahren eine weitere bei dem inzwischen 71-Jährigen diagnostiziert worden. „12“ ist entstanden in den Wochen nach einem Krankenhausaufenthalt einer schweren Operation wegen. Die Musik lässt sich auf zweierlei Arten lesen: als Innerlichkeit, was die Entstehungsgeschichte nahelegen könnte – näher liegt die Lesart einer Abstraktion. „Ich hatte nicht die Absicht, etwas zu komponieren“, sagt Sakamoto selbst, „ich wollte einfach nur von Klängen überflutet werden“. Wahrscheinlich werde er diese Art von „Tagebuch“ fortführen.
Ryuichi Sakamoto: 12. Milan Records/Sony.