Prolog zum Himmel
Die HR-Sinfoniker mit dem Solisten Antoine Tamestit und einem originellen Programm in Frankfurt.
Der Himmel öffnet sich am Ende des dritten Satzes, um die wunderlich-wunderbare Schlussszene dieser 4. Symphonie von Gustav Mahler freizugeben, die Ausmalung des „Himmlischen Lebens“ anhand gesungener Verse aus „Des Knaben Wunderhorn“ (in ruhiger Beschwingtheit: die Sopranistin Mojca Erdmann). Derlei gelingt hier, samt Lob des überirdisch guten Essens und transzendenter Musik, mit der schönen Union von Naivität und spekulativer Phantasie. Und auch alle instrumentalen Sätze dieser monumentalen „Kindersymphonie“ zeigen, weitab vom begradigt „neoklassischen“ Stilwillen, eine auch nach dem Ab- und Jenseitigen greifende formale Meisterschaft.
Dieser versicherten sich Andrés Orozco-Estrada, der charismatische Chefdirigent, und seine HR-Sinfoniker in ihrem jüngsten Konzert im Großen Saal der Alten Oper mit theatralisch-lebendiger, die behäbigen Seiten des Stückes etwas zurückdrängender, tempoflexibler und gestaltenreicher Diktion.
Umso ruhevoller zuvor „The Unanswered Question“, die kleinformatige, groß gedachte mystische Komposition des Amerikaners Charles Ives, inspiriert von den philosophischen Neuengland-Transzendentalisten (Emerson, Thoreau, Hawthorne). Ein Klangbild von tiefer Symbolhaftigkeit: Über sanft changierendem Streicherteppich (gleichsam der Ursuppe des Seins) subjektiv erregte Passagen des Flötenensembles, dazu die bohrend „fragende“ Trompetenstimme, hier auf mehrere Spieler „lontano“ verteilt. Der offenkundliche Memento-Charakter dieser Musik kann durchaus requiemartig verstanden werden, und so leuchtete es ein, dass die HR-Musiker sie auch im Andenken an zwei kürzlich verstorbene Kollegen – Bernhard Schmid und Timm Trappe – intonierten. Ohne jede Pause mit der Mahler-Symphonie verknüpft, wurde die „Unbeantwortete Frage“ also zu deren in den „Himmel“ geleitendem Prolog.
Stand Jörg Widmanns Bratschenkonzert (2015) da nicht etwas isoliert vor der Pause? Vielleicht doch nicht. Das hochoriginelle Opus begann mit klopfenden Fingergeräuschen des Solisten auf den Instrumentenkorpus, bald dialogisierend mit der Handtrommel am anderen Ende des Raumes.
Der in den hinteren Reihen des etwas schütter besetzten Orchesters (wenige hohe Streicher) in einem großen Bogen über das Podium „flanierende“ Bratscher erreichte schließlich für den Schlussteil den „normalen“ Platz links an der Seite des Dirigenten. Zuvor hatten seine Gänge, immer in Konfrontation mit Einzelmusikern oder Klanggruppen, oft tumultuös und scheinbar kollidierend, etwas von spielerisch-verstörendem „Instrumentalem Theater“. Indem dieser Typus der Avantgarde-Poetik in einen expressiv-elegischen Finalpart mündete: Ließ der Erfolgskomponist ihn damit programmatisch neokonservativ in der philharmonischen Normalität ankommen?
Es bietet sich auch eine ungeschmälert freundliche Deutung an: Variante des Prüfungswegs à la „Zauberflöte“ hin zu „himmlischer“ Weisheit und idealtypischer Gesanglichkeit. Damit wäre der immense, auf seine Art hochvirtuose Solist Antoine Tamestit (der auch die Uraufführung spielte) sozusagen ein transzendierender „Zungenredner“ seines Instruments.
Begeisterter Beifall – das Publikum ist wohl viel aufgeschlossener, als viele Veranstalter (etwas die Frankfurter Museumsgesellschaft) meinen.