Pianistische Offenbarung

Jan Lisiecki, mittlerweile 22 Jahre alt, spielt Schumann, Rachmaninow, Ravel und Chopin.
Ein klug aufgebautes Programm großer Diversität bot der Klavierabend bei Pro Arte in der Alten Oper Frankfurt. Werke von Frédéric Chopin als anwärmende und finalversöhnende und -aufpeitschende Vertrautheiten mit mal melancholischem, mal hochvirtuosem Charakter rahmten weniger bekannte und teils herausfordernde Werke von Robert Schumann, Maurice Ravel und Sergej Rachmaninow. Es spielte der mittlerweile 22 Jahre alt gewordene Jan Lisiecki, in Kanada als Sohn polnischer Eltern geboren.
Die „Nachtstücke“ op. 23 des jungdeutschen, 29-jährigen Romantikers Schumann aus dem Jahre 1839 waren bei ihm in weniger herausfahrenden und die Tasten zum Tanzen bringenden Händen. Auch nicht in solchen schwebend-sehnsüchtiger Art sondern ganz streng und fest gesetzten, was der Idiomatik von Tanz, Marsch und aufgeräumter, ruhiger Haltung sehr gut entsprach. Die frühen „Morceaux de Fantasie“ op. 3 des 19-jährigen Russen Rachmaninow von 1892 kamen ohne Rauschen und noch stark in Chopin- und Schumannnaher Vorbildhaftigkeit zur Geltung: alles knapp und präzise zugleich.
Zentrum und Höhepunkt des Konzerts war „Gaspard de la Nuit“, drei „poèmes pour piano d’après Aloysius Bertrand“ von 1908. Der 33-jährige Ravel bewegt sich hier, ganz besonders mit „Le Gibet“ – der Galgen – am Rande des Fruchtlandes, wie Pierre Boulez das genannt hätte. Ein streng formatiertes Ausdrucks-Mobile, das der Pianist kein bisschen auf Blutrünstigkeit oder Schauerromantik hin verharmloste. Völlige Stille unter dem Klang-Galgen herrschte im Großen Saal, ungewöhnlich im Konzertleben bei solch aufmerksamkeitsfordernder Verdünnung.
Nach dieser pianistischen Offenbarung hätte man, wenn nicht die Pause annonciert gewesen wäre, allenfalls mit einschlägigen Intonationen der Neuen Musik weiter gehen können. Der Blick für das Jenseits der eingehausten Klänge jedenfalls war auf großartige Weise geöffnet worden.
Frédéric Chopin selber, der Rahmenbestimmer des Abends stellte sich in der Lesart Lisieckis bei den „Nocturnes“ op. 55 und op. 72 sowie dem „Scherzo Nr.1 h-Moll“ weniger moderat und nicht glitzernd dar. Das Auspolstern von Satzstrukturen scheint überhaupt nicht Sache des interpretatorischen Formats des Pianisten zu sein. Wohl aber Festigkeit im Zugriff und bei Gelegenheit schnell auf dynamische Anschlagsdichte hochgehender Pegel.