Paul McCartney wird 75

Happy Birthday, Beatle: Paul McCartney wird heute 75 Jahre alt, sofern er nicht doch Billy Shears ist.
Als Paul McCartney seine allererste eigene Komposition anstimmt, am Sonntag ist es 75 Jahre her, sein Säuglingskreischen, der Anfangston womöglich ein C wie später in „Hey Jude“, ein G wie in „Let It Be“ oder „Blackbird“, vielleicht auch ein schnelles Hinabgleiten vom G aufs F wie in „Yesterday“, ziemlich sicher jedoch damals noch eine oder zwei Oktaven höher – an jenem 18. Juni 1942 jedenfalls kann von Singlecharts, Hitparaden in Großbritannien noch keine Rede sein. Es ist Krieg. Die Charts kommen erst zehn Jahre später.
Drüben in den USA werden aber schon Listen der bestverkauften Lieder aufgestellt. Auf Platz 1 im Juni liegen Jimmy Dorsey and his Orchestra mit „Tangerine“, weißer Smoking, Schnulze, bald abgelöst von Harry James und seinem Orchester mit „Sleepy Lagoon“, einer mumpfigen Blechbläsernummer. Ein paar Tage zuvor hat Bing Crosby in New York „White Christmas“ aufgenommen. Noch ein paar Tage zuvor, im April, ist ebendort die „Zirkuspolka“ von Igor Strawinsky uraufgeführt worden.
Man sieht: Es gibt Raum für andere Musik. Paul McCartney kommt da gerade recht. Er wird einige der berühmtesten Lieder der Weltgeschichte schreiben, er wird Mädchen (und auch Jungen) überall auf dem Erdball zum hysterischen Kreischen bringen, er wird für den ersten schwarzen US-Präsidenten singen, im Weißen Haus – wer hätte das für möglich gehalten am 18. Juni 1942? Er wird „der reichste, erfolgreichste und wohl auch einflussreichste Popmusiker aller Zeiten“ werden, wie der Journalist Volker Rebell in seiner just erschienenen großen Würdigung „Paul McCartney – Yesterday und heute“ schreibt.
McCartney muss aber auch einiges aushalten. Haferschleimbubi, Naivling, Sentimentalist, Weichspüler, Schnulzenheini, gar Kitschbeauftragter der Beatles: Alles Begriffe, zitiert Rebell, mit denen der Sänger geschmäht wurde. Vermutlich wären diese Begriffe nicht gefallen, oder zumindest weniger davon, wenn es bei den Beatles nicht jemanden gegeben hätte, der an Pauls Seite cooler wirkte. John Lennon oder Paul McCartney, die zweite große Entweder-oder-Frage des Rock’n’Roll – nach Beatles oder Stones.
Den Ex-Pilzkopf in bewegten Bildern zu erleben, in Interviews, im Fernsehen, zurzeit auch wieder im Kino, das ist für die Generation Babyboom so seltsam geblieben wie stets seit den 70ern. Ein Wesen aus einer anderen Zeit. Als hätte er ein unglaubliches Abenteuer überstanden. Reise zum Mittelpunkt der Erde, 20 000 Meilen unter dem Meer, von der Erde zum Mond, zehn Jahre Beatles-Mitglied in der ersten Reihe: Leistungen, die ungefähr denselben Heldenfaktor haben. Dass Paul McCartneys Leben nach dem letzten Bühnenauftritt der Fab Four, 1966 in San Francisco, inzwischen doppelt so lang währt wie davor: Man fühlt sich an ein Dampfschiff erinnert – nein, besser: an ein gelbes Unterseeboot, das immer weiter fährt, befeuert mit Respekt.
Er kommt ins Grübeln, oben auf dem Gipfel des Ruhms
Wenn dieser Mann überhaupt der richtige Paul McCartney ist. Bekanntlich kam er ja 1966 ums Leben und wurde durch einen Doppelgänger namens Billy Shears ersetzt. Wer daran glauben möchte, findet dafür in der Beatles-Historie mehr Beweise als für die derzeit gültige Gestalt des Erdballs. Unter anderem stellen die Albumcover von „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ (1967) und „Abbey Road“ (1969) subtile Begräbnis- und Trauerszenen für Paul dar. Wer Beatles-Platten rückwärts abspielt, findet in jedem dritten Lied Sätze wie „Paul is dead“, man muss es nur wollen. Bunte Hollywood-Magazine lieferten vor zwei Jahren sogar Ringo Starr als Kronzeugen, den Trommler der Beatles („Paul ist nicht echt, wir litten alle unter dem Geheimnis“). Gruselige Geschichte. Und alles frei erfunden, genau wie die Story des Films „Paul is dead“ (Deutschland, 2000): Ein Schüler vermutet in seinem Englischlehrer den Mörder McCartneys, kommt aber von diesem Gedanken wieder ab. Der Lehrer lässt sich nach New York versetzen. Am nächsten Tag erschießt dort jemand John Lennon.
Seit Monaten wird die Beatles-Jubiläen-Redaktion der Frankfurter Rundschau von ihren Hauptinformanten mit Beweisen für die Einzigartigkeit des Jubilars versorgt; jeden Morgen müssen die Mitarbeiter Mail-Anhänge auf die Festplatte herunterladen, damit noch Platz für elektrische Zuschriften anderer Leute bleibt. Dies mag andeuten, wie viel es von Paul McCartney zu hören und über ihn zu schreiben gäbe. Da wäre die Sache mit dem Schnurrbart der „Sgt. Pepper“-Phase: Paul schaute zu lang nach dem Mond und knallte mit dem Moped hin, wie er im Interview mit paulmccartney.com berichtet. Zahn abgebrochen, Oberlippe geplatzt. Die Wunde musste genäht werden – „ohne Betäubung. Bang! Oww!“ – und sah hinterher nicht sehr vorteilhaft aus. Also ließ sich der junge Mann einen Schnäuzer wachsen, der Rest der Band zog nach. 50 Jahre später, zum Jubiläum von „Sgt. Pepper“ neulich im Mai, posteten Fans überall Selfies mit Klebeschnurrbart.
Wie sich die Zeiten ändern. Als die Beatles ihre ersten Songs aufnahmen, durften sie noch nicht mal in den Raum mit dem Mischpult. „Wir waren ,Studio‘, also praktisch auf der Bühne“, sagt Paul im Interview mit dem Beatles-Biografen Mark Lewisohn, „und da gingst du einfach nicht in den Kontrollraum. That was where The Big People lived.“ Und heute? „Wenn ich in eine Session gehe, bin ich unweigerlich der Künstler, vielleicht auch der Produzent, sicherlich der Bassist. Ich bin mit dem Remix beschäftigt, ich bin in jeden einzelnen Schritt einbezogen.“ Da kann man ins Grübeln kommen, oben auf dem Gipfel. „Was für eine großartige Sache war das, als du einfach reinkamst, dein Zeug sangst und in den Pub gingst. Dann haben sie das gemixt und riefen dich an, wenn sie fanden, das sei eine Single. Später riefst du sie an: Haben wir einen Hit? Das war alles, was du wissen wolltest. Luxuriös, wenn du drüber nachdenkst.“
Vom ersten wackeligen Gesangseinsatz im Studio – „Love me doooo … ich höre immer noch das Zittern in meiner Stimme, wenn ich die Platte auflege!“ – zum Ritter Ihrer Majestät, Offizier der französischen Ehrenlegion, Walk-of-Fame-Stern-Inhaber in Hollywood. Es wirkt alles albern, es bringt keinen weiter, zum 75. Geburtstag die Ehrungen für einen Mann aufzuzählen, der sowieso seit 50 Jahren über jeden Zweifel erhaben ist, mit seinen Alben insgesamt fast vier Jahre lang auf Platz 1 der britischen Charts stand (die Singles gar nicht mitgerechnet) und der einzige Mensch auf Erden ist, dem eine Rhodium-Schallplatte verliehen wurde, die Steigerung von Gold und Platin ins Aberwitzige.
Man kann ihm nur immer wieder auf Knien danken für „The Fool On the Hill“, „Band On the Run“ und „Jet“. Aber vielleicht ist es die größte Leistung, dass „Macca“ die 60er Jahre überlebt hat, so wie die anderen drei im Strudel der weltweiten Hysterie, und dass er immer noch da ist und auf Tour geht, Benefizkonzerte spielt, sich für die russischen Aktivistinnen von Pussy Riot einsetzt oder für die Umwelt.
Und dass er sich nicht zu schade ist für einen Filmauftritt im neusten „Pirates of the Caribbean“, Teil 5. Die Fachpresse ist zwar wenig angetan: „Leider sieht er eher aus wie ein Alt-Hippie, der krampfhaft an seinen glorreichen Zeiten festhält und zu tief in die Flasche geschaut hat“, urteilt der „Rolling Stone“, und der „Musik-Express“ nölt: „McCartney sieht im Piraten-Style doch eher nach Fasching als nach Hollywood aus.“ Aber hey – Piraten, Fasching, Hollywood, wen interessiert das, wenn wir feiern dürfen, dass es immer noch zwei echte lebendige Beatles gibt? Oder anders ausgedrückt: „They say it’s your birthday / We’re gonna have a good time / I’m glad it’s your birthday / Happy birthday to you“, Beatles, 1968. John Lennon fand, das Lied sei ein Haufen Müll.