Paul Cannon „polyglot“: Am Horizont entlang

Paul Cannon, Kontrabassist des Ensemble Modern, stellt sich mit der Porträt-CD „polyglot“ vor.
In Auerbachs Keller lagen die Dinge noch vergleichsweise simpel: „Wenn das Gewölbe widerschallt / Fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt“, freut sich da jemand namens Siebel. So einfach ist es heute nicht mehr, wo alle Musikinstrumente – sogar die menschliche Stimme – intensive Emanzipations- und Elaborationsprozesse durchgemacht haben, in denen Spieltechniken und Artikulationsweisen weit jenseits des Herkömmlichen entwickelt und manche alten Ordnungen über den Haufen geworfen wurden.
Paul Cannon, seit 2014 Kontrabassist im Ensemble Modern, hat für sein Porträt-Album denn auch keinen Titel aus den „Grund“- und „Gewalt“-Wortfeldern gewählt. Er nennt es „polyglot“. Nimmt man das als Selbstbeschreibung, dann deutet dieser Titel darauf hin, dass er Musik als ein Gebilde aus Sprachen und Sprachebenen begreift, in denen er sich weiträumig und kundig und auf jeden Fall mehrsprachig zu bewegen gedenkt.
Das Album:
Ensemble Modern, Paul Cannon: polyglot. Ensemble Modern Medien.
Er liefert keine Bestandsaufnahme mit Vollständigkeits-Absichten, sondern einen Rundblick am Horizont des zeitgenössischen Kontrabass-Spiels entlang; Vollständigkeit wäre ohnehin, bei der unübersehbaren Fülle an gegenwärtigen kompositorischen Personalstilen ein vermessener Anspruch. Man kann aber davon ausgehen, dass er aus dieser Fülle eine Auswahl getroffen hat, die sich zu einem runden Gesamtbild und einer repräsentativ und persönlich pointierten Sicht zusammenschließt. Bei Paul Cannon bleibt der Horizont aber weit und offen. Das Ensemble Modern, die Sopranistin Rinnat Moriah, das Arditti Quartet, die Cellistin Eva Böcker, der Elektroniker Felix Dreher sowie die Schlagwerker Rainer Römer und David Haller unterstützen ihn.
Die Auswahl der Komponisten bedient sich aus dem reichen Reservoir, das sich in der langen Arbeit des Ensemble Modern gebildet hat. Ein Schwerpunkt liegt gleichwohl auf jüngeren Jahrgängen. Senior unter den vertretenen Komponisten ist Cannons Ostküsten-Landsmann Elliott Carter. Er ist mit „Figment III“, einer Komposition für Kontrabass solo aus dem Jahr 2007 vertreten, die ein erhebliches Maß an technischer Virtuosität verlangt.
Frau mit 100 Köpfen
Der Nächstältere ist Brian Ferneyhough, einer der einflussreichsten Komponisten seiner Generation, zusammen vielleicht mit Kaija Saariaho, von der Cannon das vielschichtige „Folia“ für Kontrabass und Ensemble eingespielt hat. Die jüngsten Komponisten sind Vito Žuraj und Ondrej Adámek, beide Jahrgang 1979. Žuraj hat sich bei „La femme de 100 tetes“ (oder heißt es „la femme sans tete“? Man muss genau hinhören) an Max Ernst orientiert. Adámeks „Chamber Noise“ macht nicht nur einen Scherz aus der Zusammenziehung von Kammermusik und Noise, sondern weist auf eine Beziehung zum japanischen No-Theater, wobei nicht nur die Musik, sondern auch Gesten und Gesichtsausdrücke (die aus naheliegenden Gründen auf der CD wegfallen) der Aufführenden präzise notiert sind. Und auch der Bassist zeigt sich als Komponist: „Transition“ konzentriert klanglich verfremdetes, mehrdimensionales und differenziertes Solo-Bass-Spiel auf knapp dreieinhalb Minuten. Und mit Bernhard Ganders übermütigem „Take Five For Three“ für Kontrabass und zwei Schlagzeuger verlassen wir am Ende den Konsens-Sektor der Neuen Musik.