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Passionsoratorium in der Alten Oper: Großartige Spekulation mit mildem Verlauf

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Von: Bernhard Uske

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Cembalist und Bachforscher Alexander Grychtolik bringt ein weiteres Passionswerk in der Alten Oper zur Uraufführung

Eine Uraufführung bei den Frankfurter Bachkonzerten und das im Kernbereich des Namenspatrons, von dessen Passionen man bis heute nur die nach Matthäus und Johannes kennt. Jetzt hat Alexander Grychtolik, seines Zeichens Cembalist, Dirigent und Bach-Forscher, ein Passions-Oratorium vorgelegt, das als Text aus der Feder Picanders stammt und das aus passenden Quellen anderer Arienvertonungen Bachs (Parodieverfahren) vertont wurde. Natürlich bleibt da vieles Spekulation, und im Programmhefttext des Rekonstrukteurs waren Bemerkungen wie „gewesen sein könnte“, „bleibt unklar“, „weitere Problematik“ oder „ist fraglich“ keine Seltenheit.

Aber es ist eine großartige Spekulation, die ihre Existenzberechtigung im Großen Saal der Alten Oper mit dem Chor und Orchester Il Gardellino unter der Leitung des Verfertigers dieses Passionsoratoriums unter Beweis stellte.

Musikalisch gehört BWV Anh.169 (wie das Werk im Bach-Werke-Verzeichnis geführt wird) eher zur Johannes-Passion oder zum Oster-Oratorium. Der Klangverlauf ist milder und frei von unmittelbarem Passionsrealismus. Alles wird aus der Perspektive einer quasi-meditierenden Gemütsverfassung betrachtet. Textlich ist es eine Metaphorologie des Flüssigen: von Schweiß, Blut, Speichel oder Tränen sowie dem auflösenden und befreienden Strömen: „Rolle doch nicht auf die Erde,/ Süßer und doch Schmerzens-Tau!“ Auch von Kreuzes-Hitze ist die Rede, von Speichel-Unflat, zerschmissenem und durchgrabenem Angesicht.

Das sensuelle Moment und dessen Reflexion wird musikalisch in melo-dramatischer Gedämpftheit geführt. Wenn es auch solche Stellen in den bekannten Passionen Bachs gibt, so ist die Konzentration darauf hier doch singulär. Der dezente und zugleich pointierte Klang des belgischen Ensembles mit der feinen Geschlossenheit des Chors zusammen mit den aus beiden Kollektiven rekrutierten vokalen und instrumentalen Solo-Stimmen, machte als fließender und innerlich bewegter Zug eine intensive passionsoratorische Erfahrung möglich.

Überragend war der Altus von James Hall: eine lückenlos gefasste Realisierung des aparten Stimmfachs. Ein Idealtypus für diese Klangwelt. Auch Deborah Cachets und Jana Pieters‘ Sopran, sowie Daniel Johannsens (Tenor) sowie Tiemo Wang (Bass) waren hervorragend besetzte Stimmen und Rollen. Eine Besonderheit stellte die Stimme Wolf Matthias Friedrichs (Bass) als Petrus dar: wie collagiert anmutend, ein höchst markantes Profil petrinischer Erschütterung und Gebrochenheit. Dezenter Dirigent war der Verfertiger des Passionsoratoriums selber.

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