Am Ende unseres Kundschaftens

Vögleins Lied und Musikers Leidenschaft: Zum Tod des Dirigenten, Komponisten und Jazz-Pianisten André Previn.
Von George Gershwin weiß man, dass er die Inspiration zu seiner „Rhapsody in Blue“ in einem Zugabteil fand. Ein anderer US-amerikanischer Komponist, der jetzt 89-jährig in Manhattan gestorbene André Previn, machte ihm das nach: „From a Train in Germany“ heißt der Finalsatz eines postromantischen Violinkonzerts, das er für Anne-Sophie Mutter schrieb und mit der er diese Zugfahrt unternommen hatte. Die deutsche Erstaufführung fand im Sommer 2002 in Wiesbaden statt, wenige Wochen vor der Hochzeit des Komponisten mit der 34 Jahre jüngeren Geigerin.
In diesem Finalsatz verarbeitete Previn das Volkslied „Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt’, flög’ ich zu dir“ – ein stilistisch kurioser Satz, denn das durchvariierte Lied ist etwas verloren eingebettet in einem Breitwand-Sound nach Hollywood-Art. Das Lied vom Vöglein kannte André Previn noch aus Kindertagen. Auf die Welt gekommen ist er in Berlin, am 6. April 1929 als Andreas Ludwig Priwin. Die jüdische Familie musste vor den Nationalsozialisten fliehen und emigrierte mit dem Neunjährigen nach Paris, dann nach Los Angeles. Schon in Berlin hatte er Klavierunterricht bekommen. In den USA begegnete er Förderern wie Jascha Heifetz oder Joseph Szigeti, doch vieles lernte er auch autodidaktisch. Und er war ein Pragmatiker, er machte Musik, die gebraucht werden konnte.
Schon der 17-Jährige arbeitete als Komponist und Arrangeur für MGM-Filmstudios in Hollywood, lernte ebenso früh den Jazz kennen und spielte bald in einer Riege mit Jazz-Größen wie Ray Brown, Dizzy Gillespie oder Billie Holiday. Previn setzte damit eine Tradition fort, wie sie für Komponisten in den USA von Copland über Gershwin bis Bernstein typisch war: Keine Berührungsängste zu haben, nicht zwischen E und U unterscheiden zu müssen, Filmmusik zu schätzen, am Dirigentenpult ebenso souverän zu wirken wie am Jazz-Piano.
Letzteres war eine der besonderen Stärken André Previns, auch wenn er den Jazz im Verlauf der sechziger Jahre bewusst ausblendete. Er hatte Sorge, sich seine Zukunft als ernstzunehmender Dirigent zu verbauen, wenn er sich weiter mit Blues und Bebop hören ließ. Ja, gab er später unumwunden zu, das sei feig von ihm gewesen. Erst in den Neunzigern lebte er seine Jazz-Leidenschaft wieder aus – da hatte er aber auch schon eine stattliche Karriere am Pult vieler großer Sinfonieorchester vorzuweisen, etwa seine elf Jahre als Chefdirigent des London Symphony Orchestra. Für seine klassischen Einspielungen wurden ihm dreizehn Grammys zugesprochen, für seine Filmmusiken (darunter die zur Billy-Wilder-Komödie „Eins, Zwei, Drei“) vier Oscars.
Fünfmal war André Previn verheiratet, unter anderem mit Mia Farrow. Aufsehen erregte, dass ihre gemeinsam adoptierte Tochter Soon Yi später Woody Allen heiratete, der zwischenzeitlich auch der Lebenspartner von Mia Farrow war – was Previn mit den Worten kommentierte, er würde Allen „liebend gern mit einer Dampfwalze überfahren“. Seine letzte Ehe war die mit Anne-Sophie Mutter, bis 2006 war der komponierende Dirigent mit der Geigerin verheiratet, seine Werke für sie sind präzise auf ihren so makellos schönen Violinton abgestimmt.
„Previn ist ein Komponist, der sich nicht schämt, mit seiner Musik Emotionen zu generieren“, so die Geigerin in einem Interview 2014. „Und der den Wunsch in den Interpreten hervorruft, das Werk noch einmal zu spielen. Das sehe ich als großes Qualitätsmerkmal. Musik ist für mich nicht nur ein intellektueller Exkurs – dem ich mich gerne und oft stelle, wenn ich Werke spiele, die mir recht unsinnlich vorkommen –, aber am Ende des Tages weiß ich auch Musik zu schätzen, die die Sanglichkeit und Farbigkeit meines Instruments ausschöpft.“
Dem „Vöglein“-Satz des besagten Violinkonzerts hatte André Previn ein Motto mitgegeben, es stammt von T. S. Eliot: „Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften. Und das Ende unseres Kundschaftens wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.“