Maya Homburger, Barry Guy, Lucas Niggli: Acanthis – Über Jägerzäune springen

Acanthis: Violinistin Maya Homburger, Kontrabassist Barry Guy und Perkussionist Lucas Niggli arbeiten am klingenden Detail.
Auf dem Markt gibt es so etwas wie Musik nicht wirklich. Die Wirklichkeit des Marktes unterscheidet zwischen Alter und Neuer Musik, zwischen Jazz, Pop, Rock, Ethno und so fort, und jede Sparte hat ihre Untersparten, nach denen sich Hörer und Hörerinnen, Kritiker und Kritikerinnen vergleichsweise brav richten. Nur einige Musikerinnen und Musiker nicht, obwohl sie, nach den Marktregeln, am ehesten unter dem Label „Avantgarde“ subsumiert werden müssten. Sie wollen einfach Musik schreiben und spielen.
Moment: „einfach“? Einfach mal so über die Jägerzäune in die Nachbargärten springen? Aber ja.
Maya Homburger, Violinistin, ist eine der bedeutenden europäischen Vertreterinnen der so genannten Alten Musik („Barockgeigerinnen“) und einer historisch informierten Aufführungspraxis. Barry Guy, Kontrabassist und Komponist, ist unter den Jazz- und Avantgarde-Musikern der Gegenwart eine herausragende Persönlichkeit, Gründer und Leiter des London Jazz Composers’ Orchestra, Musiker und Initiator in vielen kleineren und größeren improvisierenden Formationen, zugleich ein profilierter Musiker der Alten Musik, etwa in Hogwood’s Academy of Ancient Music oder im London Bach Orchestra. Und bei der London Sinfonietta spielt er Neue Musik. Ähnlich spartenübergreifend und jägerzaunverachtend agiert seit je auch der Schweizer Perkussionist Lucas Niggli, der Dritte im Bunde dieses Trios, in dem also mehr als drei Einflüsse zusammenfließen.
Das Album
Maya Homburger, Barry Guy, Lucas Niggli: Acanthis. Maya Recordings.
Auf dem Album „Acanthias“ hören wir frühe Sakralmusik („Veni Creator Spiritus“) in zutiefst innerlicher Artikulation. Wir hören klangintensive, filigrane Soli von Lucas Niggli („Liquid Stone“, „Harbour Song“), ein anrührend intim intoniertes Solo von Maya Homburger („Féerie d’automne“), wir hören eng verschlungene Duos mit Bass und Violine, einige reichhaltige Trios. Wir hören Musik von György Kurtág (darunter eine Version des Klavierstücks „Elegie“ für Violine und Kontrabass), von Lucas Niggli und Barry Guy. Von dem Letzteren gibt es auch eine zwölfteilige Rondo-Komposition, die sich freigeistig an barocke Form-Vorbilder lehnt.
Der Gestus der Musik ist charakterisiert durch eine stilübergreifende Bescheidenheit. In jedem Augenblick ist eine klangliche Farbigkeit zu vernehmen, die auf präzise Weise zu leuchten scheint. Und immer ist da die feinsinnige, sorgfältige Artikulation der drei Instrumentalisten, die auch in Phasen avancierterer Spieltechniken nie nach Effekten sucht.
So soll Musik sein: unprätentiös, klanglich genau, getragen von Respekt und voller Präsenz. Über die gerade 1:49 lange Aufnahme von Kurtágs „Hommage à Eberhard Feitz“ berichtet Barry Guy in den Liner Notes von einem Besuch bei Marta und György Kurtág in Budapest und einer intensiven, extrem ins Detail gehenden Arbeit daran. Die Stücke sind liedhaft kurz, mit Ausnahme von Guy Komposition „Aglais“. Das Stück stammt aus dem Kontext eines schon einige Jahre älteren Kompositionszyklus, dessen drei Partien jeweils Schmetterlingsnamen tragen – die für Barry Guy „gleichzeitig Farbe, zartes Berühren, Intensität symbolisieren“. Und als 30. Stück des Albums rezitiert Barry Guy das Gedicht „Roundelay“ von Samuel Beckett, das die Grenze zwischen Klang und Stille thematisiert und auf ihr balanciert – genau wie die Musik.