Mahler, die "Winterreise" und das Befremden

In der Alten Oper singt Julian Prégardien einen stürmischen Schubert und ist das Museumsorchester unter Sebastian Weigle mächtig gefordert.
Zur Halbzeit bei den Frankfurt Festen mit dem Motto „Fremd bin ich...“ gab es eine „Winterreise+“ als Rekonstruktion eines Vortragstypus, wie er im 19. Jahrhundert, als man noch nicht penibel auf Werktreue achtete, üblich war. Als Vorbild hatten sich Julian Prégardien und sein pianistischer Begleiter Michael Gees eine Soiree des berühmten Schubert-Sängers Julius Stockhausen mit der Pianistin Clara Schumann von 1862 gewählt, und zwischen einzelne „Winterreise“-Lieder Sonaten Domenico Scarlattis, „Lieder ohne Worte“ von Felix Mendelssohn Bartholdy, eine Bach-Gavotte und Improvisation von Gees selber gesetzt. Einen Gewinn an Nachdrücklichkeit erbrachte das im Mozart-Saal eher nicht.
Ganz im Gegensatz zu der Art, wie der 1984 in Frankfurt geborene Sänger und der 30 Jahre ältere Pianist die Schubert-Lieder selber interpretierten. Man legte Wert auf Flexibilität, ja Variabilität der Diktion, was sich bei Gees gleich zu Beginn in markanten Verzögerungen des Klangflusses und bei Prégardien in kleinen Verzierungen seines Stimmsatzes bemerkbar machte. Deutlich wurde, dass beide Musiker die Lieder in grelleres Licht getaucht sehen wollten, als es in der Tradition der „Winterreise“-Rhetorik der Fall ist. Weniger das Verlassene, das Bodenlose und schließlich ganz Ausgezehrte war Gegenstand des musikalischen Bemühens. Vielmehr ging es darum, die Zumutungen und Spannungen zu verklanglichen, die dem aus allen sozialen und personalen Verbindlichkeiten Auswandernden widerfahren.
In „Die Wetterfahne“ heißt es: „Der Wind spielt drinnen mit den Herzen / Wie auf dem Dach, nur nicht so laut“. Hier wurde dagegen teilweise mächtig laut gespielt, wobei der harte Griff in die Tasten, der aus dem Forte schnell ein Fortissimo machte, als Sturmesbraus der Empörung nicht automatisch nachhaltig war oder gar eine gegen brave Liedgutpflege gerichtete Erschütterung auszurichten vermochte.
Treffend waren die Zusätze gewählt
Treffend waren die Zusätze gewählt: motivische Korrespondenzen, die in den Improvisationen von Michael Gees besonders gut gelangen. Und Prégardien glänzte mit einem festen, entschiedenen und doch immer wieder leicht und zart werdenden Ton sowie mit bruchlosen Übergängen ins bestens resonierende Kopfregister. Eine wohlgrundierte, auch für den Trotz des Wanderers ideale Stimme.
Am nächsten Morgen wartete das erste Museumskonzert der Saison mit Gustav Mahlers 6. Sinfonie auf. Man konnte meinen, zur „Winterreise“-Halbzeit sei das als kurze Auszeit gedacht, denn Mahlers berstendes Gründerzeit-Format in gestalterischer Gewalt und Undomestiziertheit ist weit entfernt von Schuberts ganz im Isolierten fokussierter Welt. Weit gefehlt, so die Alte Oper, denn Mahler habe Befremden ausgelöst bei seinen Zeitgenossen. Und deshalb: Befremden ist ein „Winterreise“-Gefühl.
Der totale Schubert also und große Teile der gerade neueren Musikgeschichte eine Schubert-Geschichte? Die Rechnung ging mit dem mächtig geforderten Museumsorchester und seinem Chef Sebastian Weigle nicht auf. Zu drastisch war das die Muskeln spielen lassende Leben des Klangkörpers bei seinem finsteren und doch sonatenhauptsatzform-mäßig gestalteten Ringen.
Scharf die drängenden Klang-Attitüden, phänomenal die Klangbildlichkeit und die aggressiven Gegensätze. Wenig idiomatisch wirkte das Andante moderato des zweiten Satzes und sehr langsam und unturbulent das Scherzo, Dafür war das Finale ein mächtig aufgewühltes, hart attackierendes Sonopticum mit all den Wotan-, Siegfried-, Fafner- oder Alberich-Mutanten samt Parzifal-Rauschen. Mahler, der geniale Eklektizist.
Als Dreingabe erklang noch ein elektronisches Werk Bernd Alois Zimmermanns von 1969: „Tratto II“ – eine Klangskulptur aus Sinustongemischen um einen ostinaten Intervallschritt. Brilliant in den für Elektronik wie geschaffen wirkenden großen Saal projiziert von Richard Millig.